Das Schweigen des Sammlers
niemand im Haus laut sein durfte, weil Vater im Arbeitszimmer las und wer weiß wann zum Abendessen herauskommen würde.
»Nein. Solange er kein Lebenszeichen von sich gibt, stellst du das Gemüse nicht auf den Herd.«
Und Lola Xica verzog sich in die Küche und murmelte, diesem Kerl würde ich etwas husten, die ganze Familie mit seiner Lupe zu tyrannisieren. Und wenn ich in der Nähe dieses Kerls war, las er mir vor: »A un vassalh aragones. / Be sabetz lo vassalh qui es, / El a nom. N’Amfos de Barbastre. / Ar aujatz, senher, cal desastre / Li avenc per sa gilozia. – Einem aragonesischen Vasallen. / Ihr wisst wohl, welcher Vasall das ist, / Sein Name ist Amfos de Barbastre. / Nun hört, welches Unglück ihm widerfahren ist / wegen seiner Eifersucht.«
»Was ist das?«
»Verwarnung der Eifersüchtigen. Eine Novelle.«
»Ist das Altkatalanisch?«
»Nein. Okzitanisch.«
»Das ist ähnlich.«
»Sehr.«
»Was heißt eifersüchtig?«
»Der Autor ist Ramon Vidal de Besalú. Dreizehntes Jahrhundert.«
»Boh, ist das alt! Was heißt eifersüchtig?«
»Blatt 132 der Provenzalischen Liedersammlung aus Karlsruhe. Es gibt noch eins in der Pariser Nationalbibliothek. Dieses hier gehört mir. Dir.«
Adrià verstand es als Einladung und streckte die Hand aus.Mein Vater schlug darauf, und es tat sehr weh. Er sagte nicht einmal Finger weg. Er machte weiter mit seiner Lupe und sagte, wie kommt es, dass das Leben es dieser Tage so gut mit mir meint.
Japanischer Dolch für den weiblichen Selbstmord, rekapitulierte Adrià. Dann setzte er seinen Rundgang fort zu den Keramikgefäßen. Die Stiche und Handschriften hob er sich bis zuletzt auf, weil er vor ihnen den größten Respekt hatte.
»Wann kommst du uns helfen? Wir haben viel Arbeit.«
Adrià sah sich in dem Laden um und strahlte Cecília an: »Sobald Vater mich lässt.«
Sie setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich aber anders, und einen Moment lang stand ihr Mund offen. Dann begannen ihre Augen zu glänzen, und sie sagte, komm, gib mir einen Kuss.
Und ich musste sie küssen, schließlich wollte ich keine Szene machen. Im vergangenen Jahr war ich noch unsterblich in sie verliebt gewesen, aber mittlerweile wurde mir die Küsserei lästig. Ich war zwar noch sehr jung, hatte jedoch die Phase tiefer Abneigung gegen Küsse bereits erreicht, die sonst erst mit zwölf oder dreizehn beginnt; in Nebensächlichkeiten war ich schon immer frühreif. Diese heftige Kussaversion dauerte von meinem achten oder neunten Lebensjahr bis … nun ja, du weißt, bis wann. Oder vielleicht weißt du es gar nicht. Übrigens, was meintest du damit, als du zu dem Lexikon-Vertreter sagtest, du hättest ein neues Leben begonnen?
Eine Weile beobachteten Adrià und Cecília die Passanten, die vorübergingen, ohne einen Blick ins Schaufenster zu werfen.
»Es gibt immer reichlich zu tun«, sagte Cecília, die meine Gedanken erraten hatte. »Morgen entrümpeln wir eine Wohnung mit Bibliothek. Da wird es drunter und drüber gehen.«
Sie wandte sich wieder ihrer Bronze zu. Der Gestank des Putzmittels war Adrià bis ins Hirn gestiegen, und er beschloss, Abstand zu halten. Warum müssen sich japanische Frauen wohl umbringen?, überlegte er.
Wenn ich es recht bedenke, habe ich nur selten im Ladengestöbert. Wobei stöbern der falsche Ausdruck ist. Besonders aufregend fand ich die Ecke mit den Musikinstrumenten. Einmal, da war ich schon älter, probierte ich eine Geige aus, aber als ich über die Schulter nach hinten schielte, begegnete ich Senyor Berenguers stummem Blick und bekam es mit der Angst zu tun. Ich habe es nie wieder versucht. Soweit ich mich erinnere, gab es dort im Lauf der Zeit außer Flügelhörnern, Tuben und Trompeten ein gutes Dutzend Geigen, sechs Violoncelli, zwei Bratschen und drei Spinetts, dazu den Gong aus der Ming-Dynastie, eine äthiopische Trommel und eine Art reglose Riesenschlange, aus der kein Ton kam, ein Serpent, wie ich später erfuhr. Bestimmt wurden einige gekauft und verkauft, denn die Instrumente variierten, doch ihre Anzahl blieb immer gleich. Und eine Zeitlang kamen Geiger vom Liceu und verhandelten – meist vergebens – um eines der Instrumente. Vater wollte keine Musiker als Kunden, die waren immer knapp bei Kasse. Ich will Sammler, die ein Stück unbedingt haben wollen und es stehlen, wenn sie es sich nicht leisten können: Das ist meine Kundschaft.
»Warum?«
»Weil sie den Preis bezahlen, den ich ihnen nenne, und zufrieden davonziehen. Und
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