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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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was?«, fragte sie.

5
    Lange war ich von meinem Vater trotz seines unnahbaren Wesens fasziniert und wollte ihm Freude machen. Vor allem wünschte ich mir, dass er mich bewunderte. Schroff war er, ja; jähzornig auch; und er liebte mich kein bisschen. Aber ich bewunderte ihn. Vermutlich fällt es mir deshalb so schwer, von ihm zu sprechen. Um ihn nicht zu rechtfertigen. Um ihn nicht zu verurteilen.
    Eines der wenigen Male, wenn nicht das einzige, dass mein Vater mir recht gab, sagte er, na gut, ich glaube, du hast recht. Die Erinnerung daran bewahre ich wie ein Kleinod. Denn grundsätzlich waren wir anderen diejenigen, die sich in allem täuschten. Ich verstehe, dass meine Mutter das Leben von ihrem Balkon aus betrachtete. Aber ich war klein und wollte immer mitten drin sein. Und wenn mein Vater unmögliche Ansprüche an mich stellte, fand ich das erst einmal gut. Auch wenn ich die wichtigsten nicht erfüllt habe. Ich habe nicht Jura studiert; ich habe nur ein Fach studiert, dafür aber mein ganzes Leben mit Studieren verbracht. Meine zehn oder zwölf Sprachen habe ich nicht mit dem Ehrgeiz erlernt, den Rekord Pater Levinskis von der Gregoriana zu brechen; ich habe sie mir fast mühelos angeeignet und weil ich Vergnügen daran fand. Und obwohl ich mit meinem Vater noch einige Rechnungen offen habe, lag mir nie daran, dass er dort stolz auf mich sein könnte, wo er jetzt ist, also nirgends, denn seinen Unglauben an das ewige Leben habe ich geerbt. Die Pläne meiner Mutter, immer an zweiter Stelle, haben sich ebenso wenig erfüllt. Nun ja, das stimmt nicht ganz. Erst viel später habe ich erfahren, dass auch Mutter Pläne für mich hatte, diese aber vor Vater verheimlichte.
    Ich war also Einzelkind und stand unter der Beobachtung von Eltern, die darauf gierten, ihren begabten Sprössling glänzen zu sehen. Meine Kindheit war überschrieben mit: hoheMesslatte. Hohe Messlatte in jeder Beziehung, auch wenn es darum ging, mit geschlossenem Mund zu kauen und die Ellbogen nicht auf den Tisch zu stützen und das Gespräch der Erwachsenen nicht zu unterbrechen, bis ich explodierte, denn es gab Tage, da hielt ich es einfach nicht mehr aus, und weder Carson noch Schwarzer Adler konnten mich beschwichtigen. Deshalb nutzte ich gern jede Gelegenheit, um Lola Xica in die Altstadt zu begleiten, wenn sie dort etwas zu besorgen hatte, und im Laden mit großen Augen auf sie zu warten.
    Je älter ich wurde, desto größer wurde der Reiz, den der Laden auf mich ausübte, wo mich immer eine kribbelnde Neugierde befiel. Zu Hause nannten wir ihn der Einfachheit halber immer nur den Laden, obwohl er viel mehr war als das: eine ganze Welt, in der das Leben außerhalb seiner vier Wände jede Bedeutung verlor. Der Eingang befand sich im Carrer de la Palla, gegenüber der verwitterten Fassade einer vom Bistum und von der Stadtverwaltung vergessenen Kirche. Wenn man die Tür öffnete, erklang ein Glöckchen, dessen Läuten ich noch heute im Ohr habe, und rief Cecília oder Senyor Berenguer auf den Plan. Und dann begann ein Fest für Augen und Nase. Für den Tastsinn nicht, denn Adrià war es strengstens verboten, etwas anzurühren, immer musst du alles mit den Fingern anschauen, wehe dir, fass ja nichts an. Und nichts heißt überhaupt nichts, hast du verstanden, Junge? Adrià? Und weil nichts nichts hieß, schlenderte ich durch die schmalen Gänge, die Hände in den Taschen, und betrachtete einen wurmstichigen buntbemalten Engel neben einer goldenen Waschschüssel von Marie Antoinette. Und einen Gong aus der Ming-Dynastie, der ein Vermögen wert war und den Adrià einmal im Leben schlagen wollte.
    »Wofür benutzt man das?«
    Senyor Berenguer blickte auf den japanischen Dolch, dann auf mich, und lächelte.
    »Das ist ein Kaiken-Dolch von den Bushi.«
    Adrià starrte ihn mit offenem Mund an. Senyor Berenguer warf einen kurzen Blick zu Cecília hinüber, die die Bronzebecher polierte, beugte sich zu dem Jungen hinunter, bisdieser seinen zweifelhaften Atem roch, und sagte leise: »Ein Dolch, den die japanischen Kriegerinnen für ihren Selbstmord benutzt haben.« Er sah Adrià forschend an und wartete auf seine Reaktion. Und da der Junge nicht besonders beeindruckt schien, setzte er sachlich hinzu: »Edo-Periode, sechzehntes Jahrhundert.«
    Natürlich war Adrià beeindruckt, doch mit meinen acht Jahren wusste ich Gefühle bereits zu verbergen, wie Mutter, wenn Vater sich im Arbeitszimmer einschloss, um mit der Lupe seine Manuskripte zu studieren, und

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