Das Schweigen des Sammlers
Belohnung vor allem dafür, dass ich selbst derjenige war, der Forderungen an die Lehrer stellte, nichts anderes habe ich von meinem Sohn erwartet – ein gefaltetes, beidseitig beschriebenes Pergament, die Gründungsurkunde des Klosters Sant Pere de Burgal, und sagte: »Sieh mal, mein Sohn«, (ich hätte mir gewünscht, dass er diesem »Sieh mal, mein Sohn«, noch hinzugefügt hätte »in den ich alle meine Hoffnungen setze«, nachdem wir ja nun richtige Bündnispartner waren), »dieses Dokument wurde vor mehr als tausend Jahren verfasst, und jetzt halten wir es in den Händen … Hey, hey, langsam, ich zeige es dir. Wunderschön, nicht wahr? Das ist aus der Zeit, in der dieses Kloster gegründet wurde.«
»Wo ist es?«
»Im Pallars. Du weißt doch, das Bild von Urgell im Esszimmer.«
»Da ist das Kloster Santa Maria de Gerri drauf.«
»Ja, schon. Burgal ist etwa zwanzig Kilometer weiter oben in den Bergen. Zu dem Pergament: Das ist die Gründungsurkunde des Klosters Sant Pere de Burgal. Abt Delligat hatte bei Graf Ramon von Toulouse um eine rechtliche Sonderstellung für das Kloster ersucht, das sehr klein war, aber Jahrhunderte überdauern sollte. Ich finde es ergreifend, so viel Geschichte in den Händen zu halten.«
Und ich malte mir aus, was mein Vater erzählte, und dachte, dass Bruder Julià gedacht haben musste, dieser sonnige Tag passe so gar nicht in die Weihnachtszeit. Denn auf dem winzigen, kargen Friedhof von Sant Pere, wo man soeben den Ehrwürdigen Pater Prior Josep de Sant Bartomeu beigesetzt hatte, war alles Leben, das im Frühling das feuchte junge Gras mit tausend Farbtupfern übersäte, jetzt im Frost erstarrt. Sie hatten den Pater Prior begraben und mit ihm jede Hoffnung, das Kloster erhalten zu können. Früher war Sant Pere deBurgal ein freies Kloster gewesen. Seit den längst vergangenen Zeiten des Abtes Delligat war es durch viele Höhen und Tiefen gegangen; es hatte Momente der Blüte gegeben, in denen sich dreißig Mönche an dem wundervollen Anblick der unermüdlich vor dem Wald von Poses vorbeiströmenden Noguera weideten, den Herrn priesen, ihm für sein Werk dankten und den Teufel für die Kälte verfluchten, die ihren Leib plagte und die Seelen der gesamten Klostergemeinschaft zusammenschrumpfen ließ. Sant Pere hatte auch Notzeiten erlebt, als es keinen Weizen für die Mühle gab und sich gerade mal sechs oder sieben alte kranke Mönche den immer gleichen Aufgaben widmeten, die ein Mönch zu erfüllen hat, von seinem Eintritt ins Kloster, bis man ihn zu Grabe trägt, wie es an jenem Tag mit dem Pater Prior geschehen war. Aber jetzt gab es nur noch einen Überlebenden, dessen Erinnerungen so weit zurückreichten.
Ein kurzes, dürftiges Responsorium, ein hastiger, bekümmerter Segen über dem bescheidenen Sarg, und der als Zelebrant eingesprungene Bruder Julià de Sau gab den fünf Bauern, die aus Escaló heraufgekommen waren, um dem Kloster bei diesem traurigen Akt beizustehen, ein Zeichen. Von den Brüdern, die von der Abtei Santa Maria de Gerri kommen sollten, um die Schließung des Klosters bekannt zu geben, fehlte noch jede Spur. Sie würden erscheinen, wenn alles vorbei war, wie immer, wenn man sie brauchte.
Bruder Julià de Sau betrat das kleine Kloster Sant Pere. Er ging in die Kapelle. Mit Tränen in den Augen griff er zu Hammer und Meißel, schlug ein Loch in den Steinsockel des Hauptaltars und holte den winzigen hölzernen Reliquienschrein hervor. Ein leises Grausen befiel ihn, denn zum ersten Mal in seinem Leben war er allein. Allein. Ohne einen anderen Bruder. Seine Schritte hallten durch den schmalen Gang. Er warf einen kurzen Blick in das kleine Refektorium. Eine der Bänke stieß an die Wand, sodass der schmutzige Putz abblätterte. Er machte sich nicht die Mühe, die Bank zurechtzurücken. Eine Träne rann ihm übers Gesicht, und er ging in seine Zelle. Von dort betrachtete er die geliebte Landschaft,die er in- und auswendig kannte, Baum für Baum. Auf dem Bett das Allerheiligste, das die Gründungsakte des Klosters barg und jetzt auch den Reliquienschrein mit den Andenken an die unbekannten Heiligen aufnehmen musste, die jahrhundertelang in ihren täglichen Messen und Gesängen gegenwärtig gewesen waren. Und den Kelch und die Patene der Gemeinschaft. Und die beiden einzigen Schlüssel von Sant Pere de Burgal, den zu der kleinen Kirche und den zum Klostertor. So viele Jahre der Lobpreisung Gottes, reduziert auf ein solides Kästchen aus Wacholderholz, das von
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