Das Schweigen des Sammlers
rechten Weg abzubringen. Ali Bahr warf keine Steine mehr, denn Amani war verstummt und hatte ihm in die Augen gesehen. Sie hatte ihn mit ihrem Blick durchdrungen, durchbohrt, durchstochen, wie Gertrud, genau wie Gertrud, und der Schmerz in seinem Bauch hatte sich verstärkt. Inzwischen konnte die schöne Amani nicht mehr weinen, denn ein Stein hatte ihr ein Auge ausgeschlagen. Und ein dicker, kantiger Stein hatte ihren Mund getroffen, und sie verschluckte sich an ihren eigenen Zähnen, und am schlimmsten war, dass die zwölf Gerechten immer weiter Steine auf sie schleuderten, und wenn einer nicht traf, selbst wenn er nur knapp daneben warf, stieß er einen Fluch aus und bemühte sich, mit dem nächsten Stein besser zu zielen. Und die Namen der zwölf Gerechten waren: Ibrahim, Bàqir, Lut, Marwan, Tàhar, Uqba, Idris, Zuhayr, Hunayn, noch ein Tàhar, noch ein Bàqir und Mahir, gelobt sei der Allmächtige, der Gnadenreiche, der Barmherzige. Azizzadeh hörte von seinem Haus aus das Geschrei der zwölf Freiwilligen und wusste, dass drei von ihnen aus dem Dorf stammten und als Kinder mit seiner Tochter gespielt hatten, bis sie ihre Monatsblutung bekam und er sie verstecken musste, gelobt sei der Barmherzige. Und als sich draußen ein allgemeines Gebrüll erhob, wusste er, dass seine Amani nach entsetzlichen Qualen endlich tot war. Da stieß er mit dem Fuß den Hocker um, fiel und wurde nur noch am Hals von einer Kordel gehalten, mit der man sonst Grünfutter bündelte. Sein Körper wand sich in Krämpfen, während er erstickte, und das Gebrüll war noch nicht verhallt, da war Azizzadeh bereits tot und auf der Suche nach der Tochter, um sie seiner fernen Gattin zuzuführen. Der leblose Körper des unglückseligen Azizzadeh entleerte sich im Hinterzimmer seines Ladens über einem Korb Datteln.Und ein paar Straßen weiter hatte ein zu dicker Stein Amani das Genick gebrochen, ich habe euch doch gewarnt, keine zu großen Steine! Da habt ihr’s. Schon ist sie tot. Wer war das? Und die zwölf Freiwilligen nickten zu Ali Bahr hinüber, denn der hatte den halbblinden Blick dieser Hure nicht mehr ertragen können, die ihn mit ihrem einzigen Auge unverwandt angesehen hatte, als sollte dieser Blick ihre Rache sein und ihn Tag und Nacht verfolgen. Gleich am nächsten Tag ging Ali Bahr zur Karawane der Händler, die sich zum Aufbruch nach Alexandria in Ägypten rüsteten, um mit den christlichen Seefahrern Handel zu treiben, nachdem die Stadt nun in britischer Hand war. Ali Bahr trat auf den Mann zu, der ihm den entschlossensten Eindruck machte, versicherte sich, dass niemand aus dem Dorf Zeuge war, und öffnete die Faust. Der andere betrachtete den Anhänger und hob ihn hoch, um ihn besser sehen zu können. Ali Bahr bedeutete ihm, vorsichtig zu sein, der andere verstand, und beide kauerten sich hinter ein liegendes Kamel. Allen Koranregeln und heiligen Worten zum Trotz interessierte den Händler das Angebot. Er besah sich die Kette sehr genau und rieb mit den Fingern über das Medaillon, als wollte er es polieren.
»Es ist aus Gold«, sagte Ali Bahr. »Und die Kette auch.«
»Ich weiß. Aber es ist gestohlen.«
»Was sagst du da? Willst du mich beleidigen?«
»Fass es auf, wie du willst.«
Er hielt Ali Bahr den Anhänger der schönen Amani wieder hin, doch dieser schüttelte den Kopf, spreizte die Hände und wollte ihn nicht zurücknehmen. Und da er wegen dieses Goldes schon auf heißen Kohlen saß, musste er den Preis akzeptieren, mit dem ihn der Händler abspeiste. Während Ali Bahr davonging, starrte der Händler noch immer auf das Medaillon. Christliche Schriftzeichen. In Alexandria würde man es ihm aus der Hand reißen. Zufrieden strich er mit den Fingerspitzen darüber, als ließe sich all das Unreine abwischen. Er überlegte eine Weile, dann schob er die Öllampe beiseite und sah den jungen Brocia an.
»Ich kenne dieses Medaillon.«
»Na ja, das ist … die Gottesmutter von Moena, nehme ich an.«
»Santa Maria dai Ciüf.« Er drehte das Medaillon um und zeigte Brocia die Rückseite. »Aus Pardàc, siehst du?«
»Meint Ihr wirklich?«
»Kannst du nicht lesen? Bist du ein Mureda?«
»Ja, Herr«, schwindelte der junge Brocia. »Ich brauche Geld, weil ich nach Venedig will.«
»Ihr habt Hummeln im Hintern, ihr Muredas.« Ohne den Blick von dem Medaillon zu wenden, setzte er hinzu: »Willst du Seemann werden?«
»Ja. Und möglichst weit weg segeln. Nach Afrika.«
»Du wirst verfolgt, stimmt’s?«
Der Juwelier legte
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