Das Schweigen des Sammlers
das Medaillon auf den Tisch und sah Brocia in die Augen.
»Was hast du angestellt?«, fragte er.
»Nichts. Wie viel gebt Ihr mir dafür?«
»Ist dir klar, dass es auf dem Meer mehr schaukelt als auf dem Festland?«
»Wie viel gebt Ihr mir für das Medaillon?«
»Heb es auf für schlechte Zeiten, mein Junge.«
Instinktiv huschte der Blick des jungen Brocia durch die Werkstatt dieses jüdischen Gauners. Sie waren allein.
»Ich will jetzt Geld, habt Ihr mich verstanden?«
»Was ist aus Jachiam Mureda geworden?«, erkundigte sich der alte Goldschmied.
»Er ist bei seiner Familie, bei Agno, Jenn, Max, Hermes, Josef, Theodor, Micurà, Ilse, Erica, Katharina, Matilde, Gretchen und der kleinen blinden Bettina.«
»Das freut mich. Im Ernst.«
»Mich auch. Sie liegen alle dicht beieinander unter der Erde, und wenn die Würmer nichts mehr zu fressen haben, werden sie sich über ihre Seelen hermachen.« Er nahm dem Goldschmied den Anhänger aus der Hand. »Kauft Ihr mir das bbeschissene Medaillon jetzt endlich ab, oder muss ich erst das Messer zücken?«
In diesem Moment schlug die Turmglocke der Empfängniskirche dreimal, und Adrià dachte, morgen werde ich zu nichts zu gebrauchen sein.
Eine Bemerkung, harmlos und unbedeutend wie ein Sandkorn, wurde zum Auslöser eines Dramas. Es war Adriàs Frage beim Abendessen am Tag nach der Steinigung, na, bist du schon zu einem Entschluss gelangt?
»Zu was für einem Entschluss?«
»Na ja … Entweder du gehst wieder nach Hause oder …«
»Oder ich suche mir eine Pension. In Ordnung.«
»Jetzt sei bloß nicht sauer, ich wollte ja nur wissen …«
»Und wieso hast du es so eilig?«, fielst du mir ins Wort, hochmütig, schroff, ganz auf Bernats Seite.
»Nein, nein, ich habe überhaupt nichts gesagt.«
»Beruhigt euch. Morgen bin ich weg.«
Bernat sah Sara an und sagte, ich bin euch sehr dankbar, dass ihr mich in diesen Tagen beherbergt habt.
»Bernat, ich wollte nicht …«
»Morgen nach der Probe hole ich meine Sachen ab.« Mit einer Handbewegung schnitt er meine Entschuldigung ab. »Du hast ja recht, es ist Zeit, dass ich meinen Hintern bewege.« Er lächelte uns an. »Ich war schon richtig heimisch geworden.«
»Und was wirst du tun? Nach Hause zurückkehren?«
»Ich weiß es noch nicht. Das werde ich heute Abend entscheiden.«
Bernat versank in Grübeleien, und Adrià empfand Saras Schweigen, während sie sich die Zähne putzte und den Pyjama anzog, als sehr zäh. Ich glaube, so verärgert hatte ich dich bis dahin nur einmal erlebt. Deshalb flüchtete ich mich in Horaz, streckte mich auf dem Bett aus und las Solvitur acris hiems grata vice veris et Favoni / trahuntque siccas machinae carinas …
»Da hast du dich ja mal wieder von deiner besten Seite gezeigt«, bemerkte Sara gekränkt, als sie ins Schlafzimmer kam.
… ac neque iam stabulis gaudet pecus aut arator igni . Adrià hob den Blick von der Ode und sagte, was?
»Deinem Freund gegenüber.«
»Warum?«
»Wenn er doch ein sooo guter Freund ist …«
»Weil er ein sooo guter Freund ist, sage ich ihm immer die Wahrheit.«
»Genau wie er, wenn er dir sagt, dass er deine Klugheit bewundert und stolz auf dich ist, weil sich die europäischen Universitäten um dich reißen und dein Name immer bedeutender wird und …«
»Nur zu gern würde ich so etwas auch von Bernat behaupten können. Auf seine Musik trifft es zu, aber das will er nicht hören.« Und er wandte sich wieder Horaz zu und las ac neque iam stabulis gaudet pecus aut arator igni / nec prata canis albicant pruinis .
»Toll. Großartig. Ganz wunderbar.«
»Mmh?« Wieder hob Adrià den Kopf, während er dachte nec prata canis albicant pruinis . Sara sah ihn aufgebracht an. Sie wollte etwas sagen, zog es dann jedoch vor, das Zimmer zu verlassen. Wütend, aber geräuschlos lehnte sie die Tür an. Sogar, wenn du zornig warst, hieltest du dich zurück. Nur jenes andere Mal nicht. Adrià blickte auf die angelehnte Tür, ohne zu begreifen, was los war. Denn die Worte dum gravis Cyclopum / Volcanus ardens visit officinas rauschten in seinem Kopf wie ein Wildbach, erbost, seit so langer Zeit ins Präteritum verbannt zu sein.
»Was?«, fragte Sara und machte die Tür wieder auf, ließ die Hand aber auf der Klinke.
»Nichts, entschuldige. Ich habe nur laut gedacht.«
Sie lehnte die Tür wieder an. Wahrscheinlich war sie auf der anderen Seite stehen geblieben. Sie lief nicht gern im Nachthemd durch die Wohnung, wenn Gäste da waren. Und ich
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