Das Schweigen des Sammlers
weitere vier Minuten, bis Sara aus dem Haus trat und sichnach rechts und links umblickte. Sie schaute zur gegenüberliegenden Straßenecke und ging mit raschen, entschlossenen Schritten auf das Auto zu.
»Steigen Sie ein, die Polizei wollte uns schon verscheuchen«, sagte Tito und wies mit dem Kopf auf die hintere Wagentür. Sie zögerte einen Augenblick, dann öffnete sie die Tür zum Rücksitz, als handelte es sich um ein Taxi.
»Guten Tag«, sagte die Stimme.
Sara sah einen alten, hageren Mann in einem dunklen Mantel, der sie neugierig musterte. Mit der flachen Hand klopfte er ein paarmal auffordernd neben sich auf die Sitzbank.
»Sie also sind Sara Voltes-Epstein.«
Sie setzte sich, und im selben Moment ließ Tito den Wagen an. Als sie an dem Polizisten vorbeifuhren, winkte Tito ihm dankend zu und fädelte sich in den Verkehr auf dem Carrer de Llúria ein.
»Wo fahren wir hin?«, erkundigte sie sich ein wenig beunruhigt.
»Keine Angst. An einen Ort, wo wir uns bequem unterhalten können.«
Der Ort, an dem man sich bequem unterhalten konnte, war eine Luxusbar auf der Diagonal. Ein ruhiger Ecktisch war bereits reserviert. Alle drei setzten sich und sahen sich eine Weile schweigend an.
»Das ist Senyor Berenguer«, sagte Tito und wies auf den großen hageren Mann. Der neigte zum Gruß leicht den Kopf. Dann erklärte Tito, vor einiger Zeit habe er sich persönlich davon überzeugen können, dass sie eine Storioni-Geige mit Namen Vial zu Hause hätten …
»Darf ich fragen, wie Sie sich davon überzeugt haben?«
… eine sehr wertvolle Geige, die ihren rechtmäßigen Eigentümern bedauerlicherweise vor mehr als fünfzig Jahren gestohlen wurde …
»Der Eigentümer ist Senyor Adrià Ardèvol.«
… und nun sucht der rechtmäßige Eigentümer seit zehn Jahren nach ihr, und anscheinend haben wir sie tatsächlich gefunden …
»Und das soll ich glauben.«
»… und wir wissen, dass ihr rechtmäßiger Eigentümer sie am fünfzehnten Februar neunzehnhundertachtunddreißig in Antwerpen erstanden hatte. Damals lag ihr Schätzwert weit unter ihrem realen Wert. Später wurde sie ihm gestohlen. Beschlagnahmt. Auf der Suche nach seiner Geige hat der rechtmäßige Eigentümer Himmel und Erde in Bewegung gesetzt und sich, nachdem er sie gefunden hatte, noch ein paar Jahre Bedenkzeit gestattet, doch mittlerweile ist er wohl entschlossen, sie sich zurückzuholen.«
»Dann soll er sie vor Gericht einklagen. Und diese seltsame Geschichte beweisen.«
»Es gibt gesetzliche Schwierigkeiten. Ich will Sie nicht ermüden.«
»Ich bin nicht müde.«
»Ich will Sie nicht langweilen.«
»Aha. Und wie ist sie in den Besitz meines Gatten gelangt?«
»Senyor Ardèvol ist nicht Ihr Gatte. Aber wenn Sie wollen, erzähle ich Ihnen, wie sie in Senyor Adrià Ardèvols Besitz gelangt ist.«
»Mein Mann hat eine Besitzurkunde für das Instrument.«
»Haben Sie die gesehen?«
»Ja.«
»Es ist eine Fälschung.«
»Und Sie glauben, das nehme ich Ihnen ab?«
»Wer war laut dieses Dokuments der Eigentümer?«
»Wie soll ich mich daran noch erinnern? Es ist sehr lange her, dass er es mir gezeigt hat.«
»Das alles hat weder Hand noch Fuß«, sagte Adrià, ohne Sara anzusehen. Instinktiv streichelte er die Geige, zuckte aber plötzlich zurück, als hätte er einen Stromschlag erhalten.
Ich war noch zu klein, doch als Vater mich ins Arbeitszimmer rief, tat er sehr geheimnisvoll, obwohl wir allein zu Hause waren. Er sagte, sieh dir diese Geige gut an. Vial lag auf dem Tisch. Er zog die Tischlupe heran und forderte mich auf hindurchzusehen. Ich schob die Hand in die Tasche, und Sheriff Carson sagte, pass gut auf, Kleiner, anscheinend geht eshier um was Wichtiges. Also zog ich die Hand wieder heraus und betrachtete die Geige durch die Lupe. Die Kratzer und kleinen Schrammen. Den feinen Riss in der Decke. Und die Kanten, an denen ein wenig Lack fehlte …
»Das, was du hier siehst, ist ihre Geschichte.«
Ich erinnerte mich, dass er mir zu anderen Gelegenheiten schon Ähnliches über die Geige erzählt hatte. Deshalb wunderte es mich auch nicht, als ich Schwarzer Adler sagen hörte, howgh, das kommt mir bekannt vor. Und so antwortete ich meinem Vater, ja, ihre Geschichte. Was willst du damit sagen?
»Dass es in ihrem Leben viele Häuser und viele Menschen gegeben hat, die wir niemals kennenlernen werden. Du musst bedenken, von millesettecentosessantaquattro bis heute, das sind …«
»Mmmh … vediamo … centonovantaquattro
Weitere Kostenlose Bücher