Das Schweigen des Sammlers
anni.«
»Ganz recht. Wie ich sehe, hast du mich verstanden.«
»Nein, Vater.«
Acht Monate zuvor hatte ich mit den Zahlen begonnen:
»Uno.«
»Uno.«
»Due.«
»Due.«
»Tre.«
»Tre.«
»Quattro.«
»Quattro.«
»Cinque.«
»Cinque.«
»Sei.«
»Sei.«
»Sette.«
»Sette.«
»Otto.«
»Octo.«
»Otttto!«
»Otttto!«
»Proprio bene!«
Italienisch lernt man ganz von selbst, ein paar Unterrichtsstunden genügen, glaub mir.
»Aber Fèlix …, der Junge lernt doch schon Französisch, Deutsch, Englisch …«
»Signor Simone ist ein großartiger Lehrer. In einem Jahr kann mein Sohn Petrarca lesen und damit basta.« Der Zeigefinger, mit dem er auf mich deutete, ließ keinen Zweifel daran.
»Du weißt Bescheid, morgen fängst du mit Italienisch an.«
Als er mich centonovantaquattro anni sagen hörte, konnte mein Vater seinen Triumph nicht verbergen, und ich gebe zu, dass ich mich rundum zufrieden und stolz fühlte. Mit einer Hand wies er auf das Instrument, die andere legte er mir auf die Schulter und sagte, jetzt gehört sie mir. Sie ist durch viele Hände gegangen, aber jetzt gehört sie mir. Und eines Tages wird sie dir gehören. Und deinen Kindern. Meinen Enkeln. Und unseren Urenkeln, denn die Familie wird sie niemals hergeben. Das musst du mir schwören.
Ich frage mich, wie man im Namen von Ungeborenen etwas schwören kann. Aber ich weiß, dass ich es auch in meinem Namen schwor. Jedes Mal, wenn ich Vial zur Hand nehme, entsinne ich mich dieses Schwurs. Und wenige Monate später wurde mein Vater umgebracht, und daran war ich schuld. Doch bin ich zu dem Schluss gelangt, dass eigentlich die Geige schuld war.
»Senyor Berenguer«, sagte Adrià und sah sie vorwurfsvoll an, »ist ein ehemaliger Angestellter. Er hat sich mit meinem Vater und mit meiner Mutter überworfen. Und mit mir. Er ist ein Betrüger, wusstest du das?«
»Ich bin sicher, dass er ein übles Subjekt ist und es nicht gut mit dir meint. Aber er weiß ganz genau, wie dein Vater die Geige gekauft hat. Er war dabei.«
»Und dieser Albert Carbonell, der sich Tito nennt, ist um ein paar Ecken mit mir verwandt und führt heute den Laden. Sieht das nicht nach Verschwörung aus?«
»Wenn es wahr ist, was sie sagen, ist mir die Verschwörung einerlei. Hier hast du die Adresse des Eigentümers. Dubrauchst dich nur mit ihm in Verbindung zu setzen, dann haben wir beide Gewissheit.«
»Das ist eine Falle! Dieser angebliche Eigentümer ist bestimmt ein Komplize der beiden. Sie wollen sich doch nur die Geige unter den Nagel reißen, siehst du das denn nicht?«
»Nein.«
»Wie kannst du so blind sein?«
Ich glaube, mit dieser Bemerkung verletzte ich dich, aber ich war mir sicher, dass Senyor Berenguers Bemühungen alles andere als uneigennützig waren.
Sie reichte ihm einen gefalteten Zettel. Adrià nahm ihn, faltete ihn aber nicht auseinander. Er behielt ihn eine Weile in der Hand und legte ihn dann auf den Tisch.
»Matthias Alpaerts«, sagte sie.
»Was?«
»Der Name, den du nicht lesen willst.«
»Das stimmt nicht. Die Eigentümerin heißt Netje de Boeck«, sagte ich aufgebracht.
Und damit hatte ich mich verplappert wie ein fünfjähriges Kind. Ich blickte auf den Zettel, auf dem Matthias Alpaerts stand, und legte ihn wieder auf den Tisch.
»Das Ganze ist lächerlich«, sagte Adrià nach langem Schweigen.
»Jetzt bietet sich dir die Gelegenheit, begangenes Unrecht wiedergutzumachen, und du weigerst dich.«
Sara verließ das Arbeitszimmer, und danach habe ich dich nie wieder lachen hören.
46
Seit drei oder vier Tagen herrschte Schweigen bei uns. Es ist furchtbar, wenn sich zwei Menschen in der gemeinsamen Wohnung anschweigen, weil sie vermeiden wollen oder nicht wagen, den anderen zu verletzen. Sara konzentrierte sich auf ihre Ausstellung, und ich taugte zu gar nichts. Ich bin sicher, dass der Blick auf deinem Selbstporträt ein wenig traurig ist, weil es während unseres Schweigens entstand. Aber ich konnte nicht einlenken. Und so beschloss Adrià Ardèvol, zur juristischen Fakultät zu gehen und Dr. Grau i Bordas zu einem Problem zu befragen, das ein Freund von mir mit einem wertvollen, seit vielen Jahren im Familienbesitz befindlichen Objekt hatte, weil dieses mutmaßlich während des Krieges geraubt worden war, und Dr. Grau i Bordas hörte sich an, was meinen Freund bedrückte, strich sich das Kinn und erging sich in Gemeinplätzen über das internationale Recht hinsichtlich der Plünderungen im »Dritten Reich«, und
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