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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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einen ganzen Tag lang in sie verliebt.«
    Er stieg bereits ins Auto, und ich weiß nicht, ob er mich gehört hatte. Durch die Scheibe winkte er mir noch ein vages Lebewohl zu. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt.
    Erst auf dem Heimweg, als ich überlegte, ob ich dir davon erzählen sollte oder nicht, mitten im dichten Verkehr um die Kolumbussäule, wo es von Touristen wimmelte, die sich gegenseitig fotografierten, fiel mir auf, dass Albert Carbonell der erste Mensch war, der nicht Senyor Berenguer sagte, wenn er von Senyor Berenguer sprach.
    Als ich die Haustür aufschloss, hätte Sara mich fragen können, wo warst du? Und ich hätte sagen können, auf der Beerdigung meiner Schwester; und sie, du hattest eine Schwester? Und ich, ja, eine Halbschwester; und sie, das hättest du mir ruhig früher sagen können; und ich, du hast mich ja nie danach gefragt, wir hatten auch praktisch keinen Kontakt. Aber warum hast du mir nicht wenigstens jetzt gesagt, dass sie gestorben ist? Weil ich dann von deinem Freund Tito Carbonell hätte reden müssen, der mir die Geige wegnehmen will, und wir hätten uns wieder gezankt. Doch als ich die Haustür aufschloss, fragtest du nicht, wo warst du, und ich sagte nicht, auf der Beerdigung meiner Schwester, und du sagtest nicht, du hattest eine Schwester? Und dann bemerkte ich deine Reisetasche im Flur. Adrià sah sie verwundert an.
    »Ich fahre nach Cadaqués«, sagte Sara.
    »Ich komme mit.«
    »Nein.«
    Und sie verschwand ohne jede Erklärung. Es ging so schnell, dass ich mir der Tragweite des Ganzen gar nicht bewusst war. Als Sara abgereist war, riss Adrià, bangen Herzens und noch immer verwirrt, ihre Schränke auf und fühlte sich schlagartig erleichtert: Anscheinend hattest du nur ein paar Sachen zum Wechseln mitgenommen.

49
    Adrià wusste nicht, was er tun sollte, also tat er überhaupt nichts. Sara hatte ihn wieder verlassen; nur wusste er diesmal, warum. Und es war nur vorübergehend. Vorübergehend? Um nicht in Grübeleien zu versinken, stürzte er sich in die Arbeit, aber er konnte sich schlecht auf den Text konzentrieren, der die endgültige Fassung von Llull, Vico, Berlin, drei Organisatoren der Ideen werden sollte, einem Buch mit schwerfälligem Titel, das er jedoch aus einer inneren Notwendigkeit heraus hatte schreiben müssen, um Abstand von seiner Geschichte des europäischen Denkens zu gewinnen, die ihn zu erdrücken drohte, zum einen, weil er viele Jahre daran gearbeitet und große Hoffnungen hineingesetzt hatte, aber auch, weil sie Anklang bei Leuten fand, die er bewunderte … Das Bindeglied, eines der Bindeglieder zwischen den drei Denkern, bestand in der Idee einer historischen Zukunft. Und er schrieb alle drei Essays von vorn bis hinten neu. Seit Monaten arbeitete er daran. Begonnen habe ich an dem Tag, Liebste, an dem ich im Fernsehen die grauenhaften Bilder von dem Gebäude in Oklahoma City sah, nachdem es von Timothy McVeighs Bombe zerstört worden war. Ich habe dir nichts davon gesagt, weil man gewisse Dinge lieber einfach tun sollte, darüber reden kann man, wenn nötig, auch später noch. Ich fing an zu schreiben, weil ich immer geglaubt habe, dass Menschen, die im Namen irgendeiner Sache morden, kein Recht haben sollten, die Geschichte zu besudeln. Einhundertachtundsechzig Tote hat Timothy McVeigh auf dem Gewissen. Und Tausende von Unglücklichen, Trauernden und Leidenden, die keine Statistik erfasst. Woher kommt diese Unversöhnlichkeit, Timothy? Und ich stellte mir vor, wie er von einem anderen Unversöhnlichen, einem, der auf andere Weise unversöhnlich war, gefragt würde, warum all die Verwüstung, Timothy, wenn Gott doch Liebe ist?
    »Die amerikanische Regierung gehört in den Arsch gefickt.«
    »Timothy, mein Junge, was ist deine Religion?«, mischte sich Vico ein.
    »Denen auf den Sack zu gehen, die das Land kaputt machen.«
    »Das ist mitnichten eine Religion«, bemerkte Ramon Llull langmütig. »Der bekannten Religionen gibt es drei, Timothy: das Judentum, welches ein schrecklicher Irrtum ist, und möge Senyor Berlin mir verzeihen; den Islam, welcher der Irrglaube abtrünniger Feinde der Kirche ist; und das Christentum, die einzige gerechte und wahre Religion, die des lieben Gottes, des Gottes, der Liebe ist.«
    »Ich verstehe dich nicht, Opa. Ich töte die Regierung.«
    »Und die vierzig Kinder, die du getötet hast, sind die Regierung?« Berlin putzte seine Brille mit dem

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