Das Schweigen des Sammlers
das ja noch gar nicht existiert, denn es gibt nichts Unangenehmeres, als beim Schreiben zu wissen, dass alle gespannt sind, ob du es schaffst, Vico mit Llull zu verbinden und so.
»Ich bin eine Quasselstrippe, ich weiß.«
Und wie zum Beweis erzählte sie ihm, sie habe sehr nette Leute kennengelernt, mit denen sie sich an der Algarve treffen wolle, weil die anderen mit dem Fahrrad um die Iberische Halbinsel unterwegs seien und …
»Fährst du auch Rad?«
»Dafür bin ich zu alt. Ich will faulenzen, abschalten, die Fakultät und den ganzen Hickhack vergessen.«
»Und ein bisschen flirten.«
Sie antwortete nicht. Sie warf ihm nur einen raschen Blick zu und hatte im Nu begriffen, was mit mir los war, weil ihr Frauen die Dinge auf eine Weise zu durchschauen vermögt, um die ich euch immer beneidet habe.
Was weiß ich, Sara. Aber so war es. In Lauras winzigem, aber immer aufgeräumtem Apartment herrschte Unordnung, vor allem im Schlafzimmer. Kein Chaos, sondern die Unordnung der Reisevorbereitungen. Stapel von Kleidungsstücken, aufgereihte Schuhe, zwei Reiseführer und der Fotoapparat. Sie versuchten, sich unbefangen zu geben.
»Ist das eine von diesen elektronischen?«, fragte Adrià und nahm die Kamera misstrauisch in die Hand.
»Ja. Eine digitale.«
»Du bist immer auf dem neuesten Stand.«
Laura streifte im Stehen die Schuhe ab und schlüpfte in ein Paar Pantoletten, mit denen sie bezaubernd aussah.
»Du ziehst wahrscheinlich noch mit einer Leica herum.«
»Ich habe gar keine. Noch nie gehabt.«
»Und die Erinnerungen?«
»Hier.« Adrià tippte sich an den Kopf. »Da sind sie gut aufgehoben. Und immer griffbereit.«
Ich meinte es nicht ironisch, schließlich kann ich die Zukunft von niemandem voraussehen.
»Damit kann ich zweihundert Fotos machen.« Sie nahm ihm die Kamera ab, wobei sie versuchte, ihre Anspannung zu überspielen, und legte sie auf den Nachttisch neben das Telefon.
»Toll«, sagte er gleichgültig.
»Und anschließend kann ich sie auf den Computer laden. So schaue ich sie mir öfter an als in einem Album.«
»Ganz toll. Aber dafür braucht man einen Computer.«
Laura baute sich herausfordernd vor ihm auf.
»Was ist?«, fragte sie, die Hände in die Hüften gestützt. »Möchtest du jetzt einen Vortrag über die Bildqualität von Digitalfotos hören?«
Adrià sah in ihre blauen Augen und umarmte sie. Lange standen sie so da, und ich weinte ein wenig. Mit etwas Glück würde sie nichts davon merken.
»Warum weinst du?«
»Ich weine doch gar nicht.«
»Schwindler. Warum weinst du?«
Bis zum frühen Nachmittag hatten sie die Unordnung im Schlafzimmer tatsächlich in ein Chaos verwandelt und dann eine gute Stunde dagelegen und zur Decke geschaut. Laura betrachtete Adriàs Medaillon.
»Warum trägst du das immer?«
»Darum.«
»Aber du glaubst doch gar nicht an …«
»Es hilft mir, mich zu erinnern.«
»Woran?«
»Ich weiß nicht.«
Das Telefon klingelte. Es klingelte auf dem Nachttisch neben Laura. Sie wechselten einen stummen, schuldbewussten Blick. Laura, den Kopf auf Adriàs Brust gebettet, regte sich nicht, und beide hörten zu, wie es monoton und hartnäckig weiterklingelte, wieder und wieder. Adrià schaute auf Lauras Haar und hoffte, sie würde etwas unternehmen. Sie tat nichts. Das Telefon klingelte unablässig.
VI Stabat mater
Alles, was wir fürchten, wird uns gewährt.
HÉLÈNE CIXOUS
50
Zwei Jahre später klingelte das Telefon, und Adrià erschrak wie immer. Lange starrte er auf den Apparat. Das Haus war dunkel bis auf die Leselampe im Arbeitszimmer. Das Haus war still ohne dich, abgesehen vom aufdringlichen Läuten des Telefons. Er legte ein Lesezeichen in das Buch von Carr, klappte es zu und sah das Telefon an, als könnte er es damit zum Schweigen bringen. Er ließ es noch eine gute Weile klingeln, doch der Anrufer bewies eine solche Ausdauer, dass Adrià Ardèvol sich schließlich mit den Händen über das Gesicht rieb, den Hörer abhob und sagte, ja, bitte?
Sein Blick war feucht und traurig. Er war um die achtzig und machte einen kraftlosen, unendlich niedergeschlagenen Eindruck. Schwer atmend stand er auf dem Treppenabsatz und umklammerte eine kleine Reisetasche, als hinge von diesem Gepäckstück sein Leben ab. Als er Adrià langsam heraufkommen hörte, drehte er sich um. Sekundenlang musterten sie einander.
»Mijnheer Adrian Ardefol?«
Während ihm der Mann radebrechend auf Englisch bestätigte, er sei der, der ihn heute Morgen
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