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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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aus meinem Leben verschwunden. Rsrsrsrsrsrsrs. Und während man mich vorwärtsstieß und mir Befehle zubrüllte,verdrehte ich mir verzweifelt den Hals, um nach ihnen Ausschau zu halten, und konnte gerade noch sehen, wie zwei Soldaten, die Zigarette im Mund, Säuglinge wie meine Juliet aus den Armen ihrer Mütter rissen und gegen das Holz des Waggons warfen, damit die Frauen es verdammt noch mal endlich kapierten. In diesem Moment beschloss ich, weder mit dem Gott Abrahams noch mit dem Gott Jesu je wieder zu sprechen.
    Rsrsrsrsrsrsrs. Rsrsrsrsrsrsrs.
    »Entschuldigen Sie …«, sagte Adrià notgedrungen.
    Der Mann sah ihn gedankenverloren und verwundert an. Er war sich meiner Gegenwart anscheinend gar nicht bewusst und musste diese Geschichte schon tausendmal wiederholt haben, als hoffte er, dadurch würde der Schmerz nachlassen.
    »Es hat geklingelt«, sagte Adrià und sah beim Aufstehen auf die Uhr. »Ein Freund von mir, der …«
    Und er ging aus dem Zimmer, bevor der andere etwas erwidern konnte.
    »Los, los, los, das Ding ist schwer …«, rief Bernat, der mit einem voluminösen Paket in den Armen nichtsahnend hereinplatzte. »Wohin damit?«
    Schon stand er im Arbeitszimmer und hielt überrascht inne, als er dort einen Fremden sitzen sah.
    »Ach, Verzeihung.«
    »Auf den Tisch«, sagte Adrià, der hinter ihm hereingekommen war.
    Bernat stellte den großen Karton auf den Tisch und lächelte den Unbekannten scheu an.
    »Hallo«, sagte er.
    Der Alte nickte ihm zu, sagte aber nichts.
    »Komm, hilf mir mal«, sagte Bernat und versuchte, den Computer aus der Verpackung zu befreien. Adrià zog an dem Karton, während Bernat das Gerät heraushob.
    »Ich bin gerade …«
    »Ich sehe schon. Soll ich später wiederkommen?«
    Da wir Katalanisch sprachen, antwortete ich ihm etwas ausführlicher und erklärte, ich hätte unerwarteten Besuchund es werde vermutlich länger dauern. Wir sehen uns morgen, wenn es dir recht ist.
    »Alles klar.« Und mit einem Seitenblick auf den fremden Mann: »Alles klar?«
    »Ja, ja.«
    »Also gut. Dann bis morgen.« Bernat wies auf den Rechner. »Und den fasst du vorerst nicht an.«
    »Nicht im Traum.«
    »Hier ist die Tastatur und hier die Maus. Den großen Karton nehme ich wieder mit. Und morgen bringe ich dir noch den Drucker.«
    »Danke dir.«
    »Bedanken musst du dich bei Llorenç. Ich bin nur der Bote.«
    Er sah den Fremden an und sagte auf Wiedersehen. Der andere erwiderte den Gruß auch diesmal nur mit einer Kopfbewegung. Bernat wandte sich zum Gehen und sagte, bleib nur, bleib nur, ich finde allein raus.
    Wir hörten die Wohnungstür ins Schloss fallen. Ich setzte mich wieder, entschuldigte mich für die Störung und bedeutete meinem Gast fortzufahren, als hätte Bernat ihn nicht unterbrochen, um mir den alten Computer seines Sohnes zu bringen, damit ich endlich die ungesunde Angewohnheit aufgab, mit dem Füllfederhalter zu schreiben. Das Geschenk beinhaltete auch einen Schnellkurs, dessen Dauer von der Geduld sowohl des Beschenkten als auch des Schenkenden abhängen würde. Jedenfalls hatte ich mich tatsächlich bereit erklärt, am eigenen Leibe zu erfahren, was es mit diesen Maschinen auf sich hatte, die alle Welt so großartig fand und ohne die ich bestens zurechtkam.
    Auf meinen Wink nahm der alte Mann, dem die Unterbrechung anscheinend nichts ausgemacht hatte, den Faden wieder auf und sagte, als trüge er einen auswendig gelernten Text vor, jahrelang habe ich mir die Frage gestellt, die Fragen, denn es sind viele, die zu einer einzigen verschmolzen sind: Warum habe ich überlebt. Warum ich, ein Versager, der untätig zugesehen hatte, wie die Soldaten meine drei Töchter, meine Frau und meine kränkliche Schwiegermutter mitnahmen. Ohne den geringsten Widerstand zu leisten. Warum musste ich überleben, warum; meine Existenz als Buchhalter bei Hauser en Broers war bis dahin ohne jeden Belang und völlig ereignislos gewesen, und das einzig Sinnvolle, das ich je getan hatte, war die Zeugung dreier Mädchen, eines jettschwarz, eines mahagonibraun und eines blond wie Honig. Warum. Warum obendrein die furchtbare Qual der Ungewissheit, denn ich habe ihre Leichen nie gesehen, kann also nicht sicher wissen, ob sie wirklich alle tot sind, meine drei Töchterchen, meine Frau und meine hustende Schwiegermutter. Zwei Jahre lang habe ich nach dem Krieg nach ihnen geforscht, bis ich mich letztlich mit den Worten des Richters abfinden musste, der aufgrund der vorliegenden Beweise und Indizien – die

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