Das Schweigen des Sammlers
angerufen habe, öffnete Adrià seine Wohnungstür und ließ den Besucher ein. Ich war sicher, mir mit diesem Fremden eine traurige Geschichte ins Haus zu holen, aber es ließ sich nicht mehr ändern. Ich schloss die Tür, um zu vermeiden, dass sich Vertrauliches im Treppenhaus verbreitete. Noch im Flur sagte ich ihm, er könne Holländisch mit mir sprechen, und sah die feuchten Augen des Unbekannten ein wenig aufleuchten, während er den Vorschlag dankend annahm und Adrià sich beeilte, sein eingerostetes Nederlands hervorzukramen, um den Alten nach seinem Anliegen zu fragen.
»Es ist eine lange Geschichte. Deshalb habe ich Sie gebeten, sich Zeit zu nehmen.«
Adrià führte ihn ins Arbeitszimmer. Er sah den Mann entgeistert die Augen aufreißen wie einen Louvre-Besucher, der sich plötzlich in einem Raum voller unerwarteter Schätze wiederfindet. Mitten im Zimmer stehend ließ der Mann scheu den Blick schweifen, betrachtete die Bücherregale, die Gemälde, die Inkunabeln, den Schrank mit den Musikinstrumenten, die beiden Tische, dein Selbstporträt und auf dem einen Tisch den Carr, den Adrià noch nicht zu Ende gelesen hatte, und das Manuskript unter der Lupe, seine letzte Errungenschaft: die dreiundsechzigseitige Handschrift von The Dead mit kuriosen Randbemerkungen, die vermutlich von Joyce selbst stammten. Nachdem er sich umgeschaut hatte, wandte sich der Mann schweigend Adrià zu.
Adrià bot ihm einen Stuhl an, und sie setzten sich einander gegenüber an den Tisch, und ich überlegte, welches besondere Leid wohl diese scharfen Linien in die Gesichtszüge dieses Mannes gegraben haben mochte. Der Unbekannte hatte ein wenig Mühe, den Reißverschluss der Tasche aufzuziehen, dann holte er ein ordentlich in Papier eingeschlagenes Päckchen heraus. Vorsichtig faltete er das Papier auseinander. Adrià erblickte einen schmutzstarren Lappen, auf dem man noch schwach dunkle und hellere Karos erkennen konnte. Der Fremde schob das Papier beiseite und breitete den Lappen mit fast feierlicher Geste auf dem Tisch aus, als enthüllte er ein kostbares Kleinod. Adrià kam er vor wie ein Priester, der sich auf dem Altar die Korporalien zurechtlegte. Mit leiser Enttäuschung sah ich, dass das Tuch nichts enthielt. Es bestand aus zwei gleichen Teilen, und wie eine Grenze verlief mitten hindurch eine Naht. Ich ahnte nichts von den Erinnerungen, die damit verbunden waren. Der Mann nahm die Brille ab und wischte sich das rechte Auge mit einem Kleenex. Als er Adriàs respektvolles Schweigen bemerkte, sagte er, ohne ihn anzusehen, er weine nicht, er leide nur seit ein paar Monaten an einer sehr lästigen Allergie, wegen der er et cetera, et cetera, und lächelte entschuldigend. Er sah sich suchend um undwarf das Kleenex in den Papierkorb. Dann wies er mit beiden Händen auf den alten schäbigen Lappen. Eine Aufforderung an mich, Fragen zu stellen.
»Was ist das?«, fragte ich.
Der Unbekannte legte die Hände sekundenlang flach auf das Stück Stoff, als spräche er im Stillen ein inbrünstiges Gebet, und sagte dann mit veränderter Stimme, stellen Sie sich vor, Sie sitzen zu Hause beim Essen, mit Ihrer Frau, Ihrer Schwiegermutter und Ihren drei kleinen Töchtern, die Schwiegermutter ist ein bisschen kränklich, und mit einem Mal …
Der Fremde hob den Blick, und jetzt hatte er wirklich Tränen in den Augen, die nichts mit Allergie et cetera zu tun hatten, machte jedoch keine Anstalten, sie wegzuwischen. Er starrte vor sich hin und wiederholte, stellen Sie sich vor, Sie sitzen zu Hause beim Essen, mit Ihrer Frau, Ihrer kränklichen Schwiegermutter und Ihren drei kleinen Töchtern, der Tisch ist mit den neuen blau-weiß karierten Servietten gedeckt, weil Amelietje, die Älteste, Geburtstag hat, und plötzlich fliegt die Tür auf, ohne dass jemand angeklopft hätte, und sechs bis an die Zähne bewaffnete Männer stürmen herein, brüllen alle zugleich, schnell, schnell! und raus, raus!, scheuchen Sie vom Esstisch auf und werfen Sie aus Ihrem eigenen Haus, für immer, für den Rest Ihres Lebens, ohne noch einen Blick auf die neuen Festtagsservietten werfen zu können, die meine Berta zwei Jahre zuvor gekauft hatte, ohne irgendetwas mitnehmen zu können, nur die Kleider, die Sie am Leib tragen. Was heißt raus, Papa, fragte Amelietje, und ich konnte nicht verhindern, dass ihr ein Gewehrkolben einen ungeduldigen Stoß in den Nacken versetzte, um dem Raus-raus Nachdruck zu verleihen, denn Deutsch versteht jeder, weil es die Sprache ist,
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