Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
Vom Netzwerk:
tausend Schlechtigkeiten des täglichen Lebens ganz bestimmt. Ich sah ihn an und fragte wieder:
    »Und wo in Ihrer Geschichte habe ich meinen Auftritt?«
    Ich war ein wenig verwirrt und nicht ganz sicher, ob ich auf eine Glanzrolle in diesem peinvollen Leben hoffte oder beschleunigen wollte, was ich bereits befürchtete.
    »Dies ist genau der Moment, an dem Sie die Bühne betreten«, antwortete er mit einem halben Lächeln.
    »Was wollen Sie?«
    »Ich bin gekommen, um Bertas Geige zurückzuholen.«
    Das Telefon begann zu klingeln, und mir kam es vor wieder begeisterte Applaus für die Interpreten einer denkwürdigen Aufführung.
    Bernat schloss den Computer an, schaltete ihn ein, und während wir warteten, dass der Bildschirm zum Leben erwachte, erzählte ich ihm, was sich am Vortag zugetragen hatte. Je länger er mir zuhörte, desto verblüffter wurde seine Miene.
    »Wie bitte? Was?«, stieß er fassungslos hervor.
    »Du hast schon verstanden«, gab ich zurück.
    »Du bist … du bist … du bist total verrückt, Mann!«
    Er verband Maus und Tastatur mit dem Rechner. Dann schlug er wütend mit der Faust auf den Tisch, lief durchs Zimmer und riss hastig die Glastür des Instrumentenschranks auf, um zu überprüfen, was ich soeben gesagt hatte. Heftig schlug er ihn wieder zu.
    »Pass auf, dass die Scheibe nicht herausfliegt«, warnte ich ihn.
    »Zur Hölle mit der Scheibe. Zur Hölle mit dir, verflucht noch mal, warum hast du mir nicht Bescheid gesagt?«
    »Weil du es mir ausgeredet hättest.«
    »Aber selbstverständlich! Wie konntest du …«
    Der Mann stand einfach auf, öffnete den Schrank und nahm die Storioni heraus. Er streichelte sie, und Adrià beobachtete ihn gespannt und ein wenig argwöhnisch. Der Mann umarmte weinend die Geige; Adrià ließ ihn gewähren. Dann nahm der Mann einen Bogen aus dem Schrank, spannte ihn, bat mich mit den Augen um Erlaubnis und begann zu spielen. Es klang nicht besonders gut. Besser gesagt, gar nicht gut.
    »Ich bin kein Geiger. Das war ihr Metier. Ich habe immer nur zum Spaß gespielt.«
    »Und Berta?«
    »Sie war eine wunderbare Frau.«
    »Ja, aber …«
    »Sie war Konzertmeisterin an der Philharmonie von Antwerpen.«
    Er spielte eine jüdische Melodie, die ich schon öfter gehört hatte, aber nicht einzuordnen wusste. Als sie ihm auf derGeige nicht gelang, sang er sie schließlich zu Ende. Ich bekam eine Gänsehaut.
    »Ich habe eine Gänsehaut, weil du diese Geige verschenkt hast, verflucht!«
    »Das war eine Frage der Gerechtigkeit.«
    »Der Kerl war ein Hochstapler, du Trottel! Begreifst du das nicht? Himmelherrgottsakrament! Unsere Vial ist beim Teufel. Nach all den Jahren … Was würde wohl dein Vater dazu sagen?«
    »Sei nicht albern. Du hast doch nie darauf spielen wollen.«
    »Mein Leben hätte ich dafür gegeben, verdammt noch mal! Kannst du ein Nein denn nicht von einem Nein unterscheiden? Wann immer du gesagt hast, benutze sie, nimm sie mit auf Tournee, habe ich sie immer nur mit verlegenem Lächeln wieder in den Schrank gestellt, den Kopf geschüttelt und gesagt, nein, das geht nicht, das geht nicht, die Verantwortung ist zu groß. Weißt du nicht mehr?«
    »Das heißt doch nein.«
    »Nein heißt ja, verflucht. Es heißt, nichts lieber als das!« Bernat sprangen fast die Augen aus dem Kopf. »Ist das so schwer zu verstehen?«
    Adrià schwieg, als hätte er Mühe, so viel Lebensphilosophie zu verdauen.
    »Hör zu, mein Lieber: Du bist ein Blödmann«, fuhr Bernat fort. »Du hast dich von einer rührseligen Geschichte hinters Licht führen lassen.«
    Er deutete auf den Computer.
    »Und dabei bin ich eigentlich gekommen, um dir zu helfen.«
    »Vielleicht machen wir das lieber ein andermal, einverstanden? Heute sind wir ein bisschen …«
    »O Gott, was bist du doch für ein bescheuertes Arschloch! Dem Erstbesten, der an deine Tür klopft und dir etwas vorheult, die Geige zu geben! Ich verstehe die Welt nicht mehr, ehrlich.«
    Als er die Melodie zu Ende gesungen hatte, legte der Alte die Geige und den Bogen in den Schrank zurück, setzte sichwieder und sagte schüchtern, in meinem Alter sollte man nur noch spielen, wenn man allein ist. Alles versagt den Dienst, die Finger streiken, und der Arm hat nicht mehr die Kraft, um das Instrument richtig zu halten.
    »Ich verstehe.«
    »Das Alter hat etwas Obszönes. Gebrechlichkeit ist obszön.«
    »Ich verstehe.«
    »Das verstehen Sie nicht. Ich hätte mir gewünscht, vor meiner Frau und meinen Kindern zu sterben, und

Weitere Kostenlose Bücher