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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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sein Gastgeber keine Anstalten machte dranzugehen, sprach er weiter.
    »Und wie Sie sehen«, sagte er, als wollte er fortfahren. Doch vielleicht hatte er bereits alles gesagt, denn er begann, den schmutzigen Lappen wieder zusammenzulegen wie ein Straßenhändler seine restliche Ware nach einem anstrengenden Markttag. Er tat es mit Bedacht und war ganz bei der Sache. Den gefalteten Lappen legte er vor sich auf den Tisch. Er wiederholte mehrmals, en dat is alles, als sei jede weitere Erklärung überflüssig. Endlich brach Adrià sein langes Schweigen und fragte, warum haben Sie mir das erzählt. Und fügte auch noch hinzu, was habe ich damit zu tun?
    Keiner von beiden hatte bemerkt, dass das Telefon sein vergebliches Klingeln irgendwann eingestellt hatte. Jetzt drangen nur noch sehr gedämpft die Geräusche vom Carrer València zu ihnen herauf. Sie schwiegen, als verlangte der Verkehr des Stadtteils Eixample ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Schließlich sah ich dem Alten in die Augen, und ohne meinen Blick zu erwidern sagte er, nach alldem muss ich Ihnen gestehen, dass ich nicht weiß, wo Gott geblieben ist.
    »Nun ja, ich …«
    »Viele Jahre lang, im Kloster, war er Teil meines Lebens.«
    »Hat Ihnen diese Erfahrung genützt?«
    »Ich glaube nicht. Aber dort hat man versucht, mir beizubringen, dass der Schmerz kein Werk Gottes, sondern eine Folge menschlicher Freiheit sei.«
    Jetzt sah er mich an. Mit leicht erhobener Stimme, als spräche er auf einer Konferenz, sagte er, und die Erdbeben? Und die Überschwemmungen? Und warum verhindert Gott nicht, wenn jemand Böses tut?
    Er legte die Handflächen auf den gefalteten Lappen.
    »Darüber habe ich mich in meiner Zeit als Bauernmönch viel mit den Kühen unterhalten. Immer bin ich zu dem niederschmetternden Schluss gelangt, dass der wahre Schuldige Gott ist. Weil es nicht sein kann, dass alles Übel allein dem Willen des Übeltäters entspringt. Das wäre zu einfach. Denn den dürfen wir mit Gottes Erlaubnis ja sogar töten. Gott meint, mit dem Tod der Ratte verliere auch das Gift seine Wirkung. Und das stimmt nicht. Auch ohne Ratte richtet das Gift jahrhundertelang Schaden an.«
    Er blickte sich nach allen Seiten um, ohne die Bücher zu beachten, die ihn beim Eintreten so erstaunt hatten. Dann sprach er weiter:
    »Ich bin der Ansicht, dass ein allmächtiger Gott, der das Böse zulässt, ein schlechter Scherz ist. Und daran bin ich innerlich zerbrochen.«
    »Ich verstehe Sie. Ich glaube auch nicht an Gott. Der Schuldige hat immer einen Vor- und einen Zunamen. Er heißt Francisco Franco, Adolf Hitler, Tomás de Torquemada, Idi Amin, Pol Pot, Adrià Ardèvol oder wie immer Sie wollen. Aber er hat einen Namen.«
    »Glauben Sie das nicht. Der Handlanger des Bösen hat einen Namen, aber das Böse, das Böse als solches …, darüber bin ich mir noch nicht im Klaren.«
    »Sagen Sie bloß, Sie glauben an den Teufel.«
    Ein paar Sekunden lang sah er mich an, als dächte er über meine Worte nach, was mich fast mit einem gewissen Stolz erfüllte. Doch nein, er war mit seinen Gedanken ganz woanders. Offenbar hatte er keine Lust zu philosophieren.
    »Die mahagonifarbene Truu, die jettschwarze Amelia, Juliet, die Kleinste, blond wie die Sonne. Und meine kränkliche Schwiegermutter. Und meine Festeburg, meine Frau, die Berta hieß und seit vierundfünfzig Jahren und zehn Monaten tot sein soll. Ich kann nicht umhin, mich schuldig zu fühlen, weil ich noch immer am Leben bin. Täglich erwache ich mit dem Gedanken, sie im Stich gelassen zu haben, jeden Morgen … und jetzt bin ich fünfundachtzig Jahre alt und habe es immer noch nicht geschafft zu sterben und durchlebe Tag für Tag den gleichen Schmerz mit der gleichen Intensität. Darum und weil ich trotz allem niemals an Vergebung glauben konnte, habe ich angefangen, auf Rache zu sinnen …«
    »Wie bitte?«
    »… und erkannt, dass Rache nie ausreichend sein kann. Allenfalls kann man an einem Dummkopf, der sich hat erwischen lassen, sein Mütchen kühlen. Aber immer bleibt ein Gefühl der Unzufriedenheit beim Gedanken an die, die ungestraft davongekommen sind.«
    »Ich verstehe Sie.«
    »Nein, Sie verstehen mich nicht«, schnitt er mir barsch das Wort ab. »Denn Rache verursacht noch mehr Schmerz und befriedigt auch nicht. Und ich frage mich: Wenn ich schon nicht verzeihen kann, warum freut es mich dann nicht, Rache zu üben?«
    Er verstummte, und ich respektierte sein Schweigen. Hatte ich jemals Rache geübt? Bestimmt; im Lauf der

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