Das Schweigen des Sammlers
er als unbestreitbare Tatsachen bezeichnete – zu dem Schluss gelangt war, sie seien mit Sicherheit alle umgekommen, wahrscheinlich gleich am Tag unserer Ankunft in Auschwitz-Birkenau. Wie aus der beschlagnahmten Lagerdokumentation hervorging, schickte man in jenen Monaten alle Frauen, Kinder und Alten in die Gaskammern und ließ nur die arbeitsfähigen Männer am Leben. Warum habe ich überlebt? Als man mich von meinen Mädchen und Berta trennte, dachte ich, man würde mich töten, denn in meiner Unbedarftheit glaubte ich, ich sei derjenige, der eine Bedrohung für sie darstellte, nicht die Frauen. Doch stattdessen ging für sie die Bedrohung von den Frauen und Kindern aus, vor allem von den Kindern, durch die sich die verdammte jüdische Rasse wieder verbreiten und eines Tages furchtbare Rache üben könnte. Dieser Überlegung verdanke ich mein Leben, ein lächerliches Leben, jetzt, da Auschwitz ein Museum ist und nur ich allein noch den Gestank des Todes rieche. Vielleicht musste ich bis zum heutigen Tag überleben, weil ich an Amelietjes Geburtstag so feige gewesen bin. Oder weil ich an jenem verregneten Samstag in der Baracke dem alten Moshe aus Vilnius einen offensichtlich verschimmelten Kanten Brot gestohlen habe. Oder weil ich mich blitzschnell geduckt habe, als der Blockführer uns wieder einmal mit dem Gewehrkolben traktierte, und der Hieb, der eigentlich mir zugedachtwar, einen Jungen tötete, von dem ich nicht einmal den Namen weiß, nur dass er aus einem kleinen Dorf in der Ukraine nahe der Grenze zum ungarischen Hochland stammte und kohlschwarzes Haar hatte, schwärzer noch als das meiner armen kleinen Amelia. Oder weil ich … Was weiß ich … Verzeiht mir, Brüder und Schwestern, verzeiht mir, Töchter, Juliet, Truu und Amelia, und du, Berta, und du, Mutter, verzeiht mir, dass ich überlebt habe.
Er hielt inne, starrte aber weiter geradeaus ins Nirgendwo, denn über einen solchen Schmerz kann man nicht sprechen und jemandem dabei in die Augen sehen. Er schluckte, und ich saß wie angewachsen auf meinem Stuhl und kam nicht einmal auf den Gedanken, dass dem Unbekannten bei seiner langen Rede vielleicht ein Glas Wasser guttun könnte. Er brauchte es wohl nicht, denn er erzählte weiter und sagte, und so ging ich mit hängendem Kopf durchs Leben, weinte über meine Feigheit, suchte nach einer Möglichkeit, mein Versagen wiedergutzumachen, und wollte mich schließlich nur noch irgendwo verkriechen, wo die Erinnerung mich nicht fände. Ich begann, nach einem Unterschlupf zu suchen. Wahrscheinlich war es ein Irrtum, aber ich bedurfte einer Zuflucht und versuchte, mich dem Gott zu nähern, dem ich misstraute, weil er keinen Finger gerührt hatte, um Unschuldige zu retten. Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen können, aber aus tiefer Verzweiflung tut man die seltsamsten Dinge: Ich ersuchte um Aufnahme in einem Kartäuserkloster, wo man mir erklärte, dass das kein guter Plan sei. Ich bin nie religiös gewesen. Ich bin zwar getauft, aber über das rein gesellschaftliche Brauchtum hinaus hatte der christliche Glaube bei uns zu Hause keine Bedeutung, und dieses Desinteresse an der Religion habe ich von meinen Eltern geerbt. Ich habe meine geliebte Berta geheiratet, meine tapfere Gattin, die Jüdin war, aber auch aus einer nichtreligiösen Familie stammte, und nicht gezögert hatte, sich aus Liebe mit einem Goi zu verbinden. Durch sie wurde ich im Herzen zum Juden. Nachdem mich die Kartäuser abgewiesen hatten, lernte ich zu lügen, und in den anderen Klöstern, in denen ich es versuchte, erwähnte ich die Ursache meines Leidens mit keinem Wort. Ich lernte, was ich sagen und was ich verschweigen musste, und als ich an die vierte Tür klopfte, die der Sankt-Benedikt-Abtei in Achel, wusste ich, dass niemand mehr an meiner späten Berufung Anstoß nehmen würde, und bat, falls der Gehorsam mich zu nichts anderem verpflichte, für den Rest meines Lebens die niedrigsten Arbeiten im Kloster verrichten zu dürfen. Seitdem spreche ich wieder ein bisschen, nicht viel, mit Gott und verstehe mich auf Kühe. In diesem Moment fiel mir auf, dass schon seit einer Weile das Telefon läutete, ich konnte mich aber nicht aufraffen abzunehmen. Jedenfalls war es das erste Mal seit zwei Jahren, dass mir dieses Geräusch keinen Schrecken einjagte. Der Fremde, der so fremd nicht mehr war, denn er hieß Matthias und hatte eine Zeitlang Bruder Robert geheißen, sah zum Telefon, dann auf Adrià und wartete, dass dieser reagierte. Da
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