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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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es langsam genug ist?«
    »Es ist nie genug, solange man sich fühlt wie …«
    »Wie fühlst du dich?«
    »Was weiß ich.«
    »Howgh.«
    »Ja, was ist?«
    »Wenn ich mich einmischen darf …«
    »Na los, sag schon, Schwarzer Adler.«
    »Der Wind der weiten Prärie täte deinem kranken Geist wohl.«
    »Ja, ich habe überlegt zu verreisen, aber ich weiß nicht, wohin und was ich dort tun soll.«
    »Es würde schon genügen, wenn du die Einladungen aus Oxford, Rennes, Tübingen und ich weiß nicht woher noch annähmest.«
    »Konstanz.«
    »Genau.«
    »Ihr habt recht.«
    »Die Jagd wird reiche Beute bringen, wenn der edle Krieger seine tapfere Brust neuen Jagd- und Kriegsabenteuern darbietet.«
    »Ich habe schon verstanden, danke. Dank euch beiden.«
    Ich hörte auf meine Ratgeber und ließ mir auf der Suche nach neuen Heldentaten auf den Prärien Europas frischen Wind um die Nase wehen. Und langsam, zaghaft, kam die Lust am Schreiben wieder, vielleicht dank der Reisen und der Ermutigung durch diejenigen, die ihn fragten, wann veröffentlichst du denn ein neues Buch, Ardèvol?
    Und schließlich hatte er einen Stapel einseitig beschriebener Seiten beisammen, die ihn nicht im Geringsten überzeugten. Ich habe mich völlig verausgabt. Ich weiß nicht, wo das Böse ist, und ich kann mir meine eigene agnostische Verwunderung nicht erklären. Um den Weg weiterzugehen, fehlen mir die Werkzeuge eines Philosophen. Ich versteife mich darauf, den Ort zu finden, an dem das Böse haust, und ich weiß, dass es nicht im Inneren eines Menschen ist. Im Inneren vieler Menschen? Ist das Böse die Frucht eines pervertierten menschlichen Willens? Oder nein: Es kommt vom Teufel, und der bläst es den von ihm auserwählten Menschenein – das zumindest glaubte, so vermute ich, der arme Matthias Alpaerts mit dem tränenfeuchten Blick. Das Schlimme daran ist, dass der Teufel nicht existiert. Und Gott, wo bleibt der? Der strenge Gott Abrahams, der unerklärliche Gott Jesu, Allah, der Grausame und Liebevolle … Soll man doch die Opfer grausamer Taten fragen. Gäbe es Gott, so wäre seine Kälte angesichts der Folgen des Bösen empörend. Was sagen die Theologen dazu? Auch wenn sie sich noch so blumig ausdrücken, im Grunde genommen stoßen sie hier an ihre Grenzen: das absolut Böse, das relativ Böse, das Malum physicum, das Malum morale, das schuldhaft Böse, das Leid verursachende Böse … Mein Gott, es wäre zum Lachen, wenn das Böse nicht den Schmerz mit sich brächte. Und die Naturkatastrophen – sind die auch böse? Sind sie auf andere Weise böse? Und ist das Leid, das sie verursachen, ein anderes Leid?
    »Howgh.«
    »Was.«
    »Jetzt komme ich nicht mehr mit.«
    »Ich auch nicht, Schwarzer Adler«, murmelte Adrià vor seinem Stapel säuberlich und doch unleserlich klein beschriebener Papiere. Er stand auf und ging im Arbeitszimmer auf und ab, um die verkrampften Ideen zu lockern. Weißt du, was mit mir los war, Sara? Ich argumentierte nicht, ich schrie. Ich dachte nicht, ich weinte oder lachte, und so kann man nicht wissenschaftlich arbeiten. Und plötzlich fiel mir ein, sieben, zwei, acht, null, sechs, fünf.
    Zum ersten Mal seit Jahren öffnete ich den Tresor meines Vaters. Sieben, zwei, acht, null, sechs, fünf. Ich war neugierig, weil ich nicht mehr wusste, was ich darin aufbewahrte. Zwei dicke Umschläge mit allen möglichen, sicher vollkommen nutzlosen Unterlagen meiner Eltern lagen darin: uralte Quittungen, hastig hingekritzelte Notizen, die fünfzig Jahre später ihre Dringlichkeit verloren hatten. Ein paar Aktien und Ähnliches, was ich beiseite legte, damit der Verwalter einen Blick darauf werfen und mir sagen konnte, was ich damit machen solle. Und eine einsame, traurige blaue Mappe, der aramäischeBrief, den mein Vater mir vor zu langer Zeit geschrieben hatte. Die Botschaft mit verzögerter Wirkung. Wenn Vater jetzt erführe, dass ich Vial schließlich weggegeben hatte, würde er mich sicher anschreien und mir eine Ohrfeige verpassen. In der Mappe lag ein weiteres einsames Amulett: der Brief von Isaiah Berlin, den ich Bernats Manöver zu verdanken hatte. Danke, Bernat, mein Freund, wenn alles gutgeht, wirst du diese Seiten vor allen anderen lesen und kannst diese Abschweifung am Ende streichen.
    Und dann lag noch etwas in einer Ecke, ein Umschlag von Kodak. Mit neugierigen Fingern öffnete ich ihn: Es waren die Fotos meiner Storioni, die ich an dem Tag gemacht hatte, als ich sie Matthias Alpaerts zurückgab. Ich hatte ganz

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