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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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vergessen, dass ich Abzüge gemacht und dann alles im Tresor verwahrt hatte. Ich erinnerte mich nur noch – und weiß es auch heute noch ganz genau –, wie unsicher ich gewesen war, ob ich nicht die größte Dummheit der Welt beging, indem ich mich von einer Geschichte verführen ließ, die zu dramatisch war, um falsch zu sein. Einen nach dem anderen sah ich mir die Abzüge an. Sie gehörten schon zu denen, auf denen Monat und Jahr der Aufnahme zu sehen sind. Ich sah sie an: Decke, Boden, Zargen, die wunderschöne Schnecke, die F-Löcher; und dann das Foto, bei dem ich ganz dicht an das eine F-Loch herangegangen war. Das Laurentius Storioni Cremonensis me fecit im Inneren war kaum zu entziffern. Uff. Ich legte das Bild beiseite und hielt verblüfft inne: Das nächste Foto war eines, das du von dir selbst im Spiegel des Kleiderschranks gemacht hattest, vielleicht als Vorarbeit zu einer Zeichnung, einem Selbstporträt. Laut Datum war es zwei Jahre vor den anderen Fotos entstanden. Hattest du das Bild vergessen? Oder hattest du vergessen, die angefangene Filmrolle vollzuknipsen und zum Entwickeln zu bringen? Und du hattest noch zwei Fotos gemacht. Adrià verschwamm alles vor Augen, und er konnte sich nur mühsam wieder beruhigen. Da war er, bei der Arbeit, den Kopf über den Schreibtisch gebeugt, schreibend. Ein Foto, das du heimlich geschossen hattest, als wir schon nicht mehr miteinander redeten.Du warst wütend auf mich und aufgebracht, aber du hast mich heimlich fotografiert. Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich nicht genug darüber nachgedacht habe: Unser Streit muss für dich schmerzhafter gewesen sein als für mich, weil du ihn angefangen hattest. Und wenn deine Hirnblutung eine Folge dieser Belastung war?
    Auf dem dritten Foto war eine Zeichnung zu sehen, die auf der Staffelei in ihrem Atelier stand. Eine Zeichnung, die ich nie gesehen und von der Sara mir nie erzählt hatte. Eine Zeichnung, festgehalten auf einem Foto, weil sie sie wahrscheinlich in tausend Fetzen zerrissen hatte. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht zu weinen, und nahm mir vor, am nächsten Tag eine Vergrößerung davon zu machen, falls ich die Negative fände. Unter der Tischlupe sah ich mir das Foto genauer an. Es waren sechs Zeichnungen, der Versuch einer Annäherung an ein Gesicht. Sechs zunehmend komplexere Zeichnungen vom Gesicht eines Kleinkinds im Halbprofil. Ich hätte nicht sagen können, ob sie die Zeichnungen angefertigt hatte, als sie das Kind vor sich hatte, oder ob sie ein Versuch waren, sich Claudines Gesicht ins Gedächtnis zu rufen, zu sehen, an was sie sich noch erinnern konnte. Oder ob sie kaltblütig genug gewesen war, ihre tote Tochter zu zeichnen. All die Jahre hatte dieses Foto neben den anderen im Tresor gelegen. Das Foto deines Schmerzes. Denn nachdem du das Drama durchlebt hattest, brachtest du es noch fertig, es zu zeichnen, vielleicht weil du nicht wusstest, dass das unerträglich ist. Denk an Celan. Denk an Primo Levi. Zeichnen bedeutet, genau wie Schreiben, das Erlebte noch einmal zu durchleben. Und wie um meinen Gedanken Beifall zu zollen, klingelte das verdammte Telefon, und ich begann zu zittern, als ginge es mir noch schlechter, als es mir tatsächlich ging. Ich überwand mich und hob ab, wie Dalmau es mir verordnet hatte.
    »Ja, bitte?«
    »Hallo, Adrià. Ich bin’s, Max.«
    »Hallo.«
    »Wie geht’s?«
    »Gut.« Und nach fünf Sekunden: »Und dir?«
    »Gut. Hör mal, hast du Lust, mit mir zu einer Weinprobe ins Priorat zu fahren?«
    »Hmmm …«
    »Weißt du, ich habe mich aufgerafft, ein Buch zu schreiben … eines mit vielen Bildern, wohlgemerkt, nicht so wie deine Bücher.«
    »Worüber?«
    »Über den Verkostungsprozess.«
    »Es ist bestimmt schwierig, diese ätherischen Empfindungen in Worte zu fassen.«
    »Dichter tun das auch.«
    Jetzt frage ich ihn, was er über Claudine und Saras Leid weiß.
    »Max Voltes-Epstein, der Poet des Weines.«
    »Kommst du mit?«
    »Hör mal. Ich wollte dich was fragen …« Er fuhr sich mit der Hand über den kahlen Schädel und bremste sich gerade noch rechtzeitig. »Ist auch egal. Wann ist das denn?«
    »Dieses Wochenende. Im Centre Quim Soler.«
    »Holst du mich ab?«
    »Abgemacht.«
    Max legte auf. Er hatte nicht das Recht, im Leben eines guten Menschen wie Max herumzustochern. Und vielleicht wusste der von nichts. Schließlich hatte Sara ihre Geheimnisse vielleicht vor jedermann gehütet. Was für ein Jammer: Ich hätte dir helfen können, deinen Schmerz

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