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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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zu tragen. Nein, das erscheint mir ein wenig prätentiös. Vielleicht, einen Teil zu tragen. Ich wäre gerne deine Zuflucht gewesen, und das konnte ich nicht sein, ich war nicht gut genug. Ich habe dich bestenfalls vor ein paar Regentropfen geschützt, nicht aber vor dem Wolkenbruch.
    Als ich Dalmau fragte, wie schnell der Prozess voranschreiten werde, wie viel Zeit bleibt uns noch, wie drängend ist es, verstehst du?, presste er nachdenklich die Lippen aufeinander.
    »Das ist von Fall zu Fall verschieden.«
    »Mich interessiert verständlicherweise mein Fall.«
    »Wir müssen Tests durchführen. Bisher haben wir nur Hinweise.«
    »Ist es wirklich unumkehrbar?«
    »Nach dem heutigen Stand der Medizin, ja.«
    »Scheiße.«
    »Ja.«
    Sie schwiegen. Doktor Dalmau sah seinen Freund an, der ihm am Schreibtisch seines Sprechzimmers gegenübersaß und sich weigerte, den Kopf hängen zu lassen, und so angestrengt nachdachte, dass er keinen Blick für die Gelbtöne des Modigliani an der Wand hatte.
    »Noch arbeite ich. Ich lese problemos.«
    »Du hast selbst zugegeben, dass du unerklärliche Aussetzer hast. Dass es in deiner Erinnerung weiße Flecken gibt. Dass …«
    »Ja, ja, ja … Aber das bringt das Alter nun mal mit sich.«
    »Zweiundsechzig ist heutzutage kein Alter. Es gab zahlreiche Warnhinweise. Und viele hast du gar nicht mitbekommen.«
    »Sagen wir, das ist die dritte Warnung.« Stille. »Kannst du mir ein Datum nennen?«
    »Ich kenne es nicht. Es gibt kein festes Datum; es ist ein Prozess, der seinem eigenen Rhythmus folgt, und der ist von Mensch zu Mensch verschieden. Wir werden dich unter Beobachtung halten. Aber du musst …«
    Dalmau verstummte.
    »Ich muss was?«
    »Du musst Vorkehrungen treffen.«
    »Was meinst du damit?«
    »Du musst … deine Angelegenheiten regeln.«
    »Du meinst, ein Testament?«
    »Nun ja … Ich weiß nicht, wie … Du hast niemanden, oder?«
    »Na, hör mal, ich habe Freunde.«
    »Du hast niemanden, Adrià. Du musst alles regeln.«
    »Das ist echt hart.«
    »Ja. Und du musst jemanden einstellen, damit du möglichst wenig allein bist.«
    »Das mache ich erst, wenn es so weit ist.«
    »In Ordnung. Aber komm alle vierzehn Tage hier vorbei.«
    »Abgemacht«, sagte er, wie Max.
    Das war der Augenblick, als ich die verrückte Idee, die seit jener regnerischen Nacht in Vallcarca in mir gereift war, in die Tat umsetzte. Ich nahm die dreihundert Blätter, über denen ich in dem vergeblichen Versuch gebrütet hatte, über das Böse zu sprechen, von dem ich doch wusste, dass es unfassbar und geheimnisvoll ist wie der Glaube, und begann auf der Rückseite – fast wie bei einem Palimpsest – den Brief an dich, der nun, da ich im hic et nunc angekommen bin, glaube ich, beendet ist. Llorenç’ Bemühungen zum Trotz habe ich ihn nicht auf dem Computer getippt, der brav in einer Ecke des Schreibtischs steht. Diese Papiere habe ich Tag für Tag mit meiner chaotischen Schrift aus vielen, mit ein wenig Tinte vermischten Tränen bedeckt.
    All die letzten Monate habe ich frenetisch geschrieben, vor mir dein Selbstporträt und die beiden Landschaften, die du mir geschenkt hast: deine subjektive Sicht meines Arkadiens und die kleine halbkreisförmige Apsis von Sant Pere de Burgal. Ich habe sie wie besessen angestarrt und kenne jedes ihrer Details, alle Linien und alle Schatten. Und alle Geschichten, die sie in mir geweckt haben. So habe ich vor diesem Altar aus deinen Zeichnungen gesessen und unermüdlich geschrieben, wie bei einem Wettlauf zwischen meinem Gedächtnis und dem Vergessen, das mein erster Tod sein wird. Ich habe geschrieben, ohne nachzudenken, auf das Papier ausgegossen, was erzählbar ist, im Vertrauen darauf, dass es später einmal von jemandem, der sich zum Paläontologen berufen fühlt – im besten Fall Bernat –, entziffert und weitergegeben wird, an wen, weiß ich nicht. Vielleicht ist dies mein Testament. Völlig wirr, aber ein Testament.
    Mit diesen Worten habe ich begonnen: »Erst gesternAbend, als ich durch die regennassen Straßen von Vallcarca spazierte, wurde mir bewusst, dass es ein unverzeihlicher Fehler war, in diese Familie hineingeboren zu werden.« Das, was ich erlebt habe, liegt lange zurück; und seit ich es aufgeschrieben habe, ist ebenfalls viel Zeit vergangen. Jetzt ist es anders. Jetzt ist morgen.
    Nach zahllosen Verhandlungen mit Notaren und Rechtsanwälten und nachdem er drei, vier Mal den Vettern in Tona Bericht erstattet hatte, die ihm für die Anteilnahme an

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