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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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zu retten. Nun bist du schon seit einiger Zeit tot, und ich kann mich immer noch nicht damit abfinden. Wie ein Schiffbrüchiger treibe ich dahin, an eine morsche Planke geklammert, ohne ein Ziel, auf das ich zupaddeln könnte, jedem Windstoß ausgeliefert, und denke an dich. Ich frage mich, warum das alles nicht anders ausgehen konnte, und denke an die tausend versäumten Gelegenheiten, dich zärtlicher zu lieben.
    An diesem Abend in Vallcarca, im Nieselregen und ohne Schirm, begriff ich, dass mein ganzes Sein eine einzige Übertreibung ist. Oder schlimmer: ein einziger Irrtum, denn es ging schon damit los, in die falsche Familie hineingeboren zu sein. Ich weiß, ich kann die Last des Denkens und die Verantwortung für meine Taten weder auf Götter noch auf Freunde noch auf Lektüren abwälzen. Aber dank Max weiß ich, abgesehen von vielen Einzelheiten aus dem Leben meines Vaters, eine Sache, die mich am Leben erhält: Du hast mich wahnsinnig geliebt. Mea culpa, Sara. Confiteor.

VII  … usque ad calcem
     
     
     
    Wir wollen versuchen, sehenden Auges in den Tod einzugehn …
    MARGUERITE YOURCENAR

58
    Langsam nimmt es hier mit dem Sterben überhand, hatte Adrià seinen Vater murmeln hören. Und nun streifte er ziellos durch die Erschaffung des Universums, ohne die Bücherrücken wahrzunehmen. Und an der Uni hatten die Seminare ihre Lebendigkeit verloren, weil er nichts anderes mehr wollte, als im Arbeitszimmer vor Saras Selbstproträt zu sitzen und deinem Geheimnis nachzusinnen, Liebste. Oder schweigend den Urgell im Esszimmer zu betrachten, in der Hoffnung, Zeuge des unmöglichen Schauspiels zu werden, wie die Sonne bei Trespui hinter den Hügeln verschwand. Und nur ganz selten einmal wandte er sich lustlos dem Papierstapel zu, nahm ihn in die Hand und schrieb seufzend ein paar Zeilen oder warf einen skeptischen Blick auf das, was er am Tag oder in der Woche zuvor geschrieben hatte, und fand es schmerzhaft belanglos, ohne zu wissen, wie er er das vermeiden könne. Selbst der Hunger hatte ihn verlassen.
    »Adrià, hören Sie.«
    »Ja?«
    »Sie haben seit zwei Tagen nichts gegessen.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen: Ich habe keinen Hunger.«
    »Natürlich mache ich mir Sorgen.«
    Caterina, die ins Arbeitszimmer gekommen war, packte Adrià am Arm und versuchte, ihn hochzuziehen.
    »Was soll das denn?«, rief Adrià erschrocken.
    »Brüllen Sie nur, das ist mir ganz egal. Sie kommen jetzt sofort mit in die Küche.«
    »He, lassen Sie mich gefälligst los!«, protestierte Adrià empört.
    »Nein. Tut mir leid, aber das tue ich nicht.« Empörter und lauter als er: »Haben Sie sich mal im Spiegel angesehen?«
    »Warum sollte ich?«
    »Na los, vorwärts«, befahl sie schroff.
    Er war Chaim Epstein, und Lola Xica war der Hauptsturmführer, der ihn gegen die Anordnung von Sturmbannführer Barber aus der Barracke sechsundzwanzig holte, weil jemand ein todlustiges Spiel erfunden hatte: Hasenjagd. Hauptsturmführer Caterina schleifte ihn in die Küche, wo statt eines knappen Dutzends verängstigter Ungarinnen eine Reis- und Nudelsuppe und ein mit einer halben Tomate garniertes Filet auf ihn warteten. Hauptsturmführer Caterina zwang ihn, sich an den Tisch zu setzen, und Chaim Ardèvol spürte zum ersten Mal seit Tagen, dass er hungrig war, und fing an zu essen, mit gesenktem Kopf, als fürchtete er eine Rüge des Hauptsturmführers.
    »Köstlich«, sagte er und deutete auf die Suppe.
    »Möchten Sie noch mehr?«
    »Ja, danke.«
    Während des Essens passte Caterina, das Gesicht vom Schirm der Mütze verdeckt, mit der Rute drohend an die blankgeputzten Stiefel schlagend, scharf auf, dass der Gefangene nicht aus der Küche entfloh. Sie brachte ihn sogar dazu, zum Nachtisch ein Joghurt zu essen. Als er fertig war, sagte der Sträfling danke, Lola Xica, stand auf und ging hinaus.
    »Caterina.«
    »Caterina. Sollten Sie um diese Uhrzeit nicht schon zu Hause sein?«
    »Doch. Aber ich habe keine Lust, Sie morgen, wenn ich wiederkomme, ausgedörrt wie einen Stockfisch in irgendeiner Ecke zu finden.«
    »Sie übertreiben.«
    »O nein. Wie einen Stockfisch: toter als das Tote Meer.«
    Adrià ging zurück ins Arbeitszimmer, weil er fand, sein Problem seien die beschriebenen Seiten, an die er nicht glaubte. Zu viele Dinge, um sie allein mit sich herumzutragen. Und die Tage vergingen. Und die Monate. Langsam, endlos. Bis er eines Tages hörte, wie jemand auf den Boden spuckte, und fragte, was willst du, Carson.
    »Meinst du nicht, dass

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