Das Schweigen des Sammlers
Einige Sekunden lang blieb sein Blick an dem Selbstbildnis hängen, doch enthielt er sich jedes Kommentars.
»Was hast du gefragt?«
»Wie es Tecla geht.«
»Sehr gut. Ganz ausgezeichnet.«
»Das freut mich.«
»Adrià.«
»Was.«
»Hör auf damit.«
»Wieso …?«
»Weil ich dir vor zwei Tagen gesagt habe, dass wir uns trennen, dass wir uns bis aufs Blut streiten …«
»Ach …«
»Weißt du das nicht mehr?«
»Nein. Ich bin sehr in Gedanken und …«
»Du bist ein zerstreuter Professor.«
Adrià antwortete nicht, und um das Schweigen zu brechen, sagte Bernat, wir haben uns getrennt. In unserem Alter trennen wir uns noch.
»Tut mir leid. Aber macht es anständig.«
»Wenn ich ehrlich sein soll, ist mir das inzwischen schon völlig egal. Ich habe alles so satt.«
Bernat setzte sich, klopfte sich auf die Knie und sagte in aufgesetzt fröhlichem Ton, also los, was gibt es so Eiliges und Dringliches?
Adrià sah ihn eine endlose Minute lang unverwandt an. Bernat hielt seinem Blick stand, bis er bemerkte, dass Adrià, obwohl er ihn ansah, weit weg war.
»Was hast du?« Pause. Adrià war geistesabwesend. »Adrià?« Und leicht verzweifelt: »Was ist los mit dir?«
Adrià schluckte und schaute seinen Freund beklommen an. Dann wandte er den Blick ab.
»Ich bin krank.«
»Ach.«
Stille. Das ganze Leben, unser ganzes Leben, dachte Bernat, zieht vor deinem inneren Auge vorbei, wenn dir ein geliebter Mensch sagt, er sei krank. Und Adrià war immer noch gedankenverloren. Bernat bemühte sich, Tecla für einen Moment zu vergessen, diese Schlampe, die mir den Tag, die Woche und den Monat versaut, das Miststück, und sagte, was soll das heißen? Was hast du?
»Verfallsdatum.«
Stille. Wieder lange Sekunden der Stille.
»Aber was ist los mit dir, verdammt, stirbst du, ist es ernst, kann ich irgendetwas tun, ich weiß auch nicht, sag doch was.«
Wäre da nicht die elende Trennung von Tecla gewesen, hätte er niemals so reagiert. Und Bernat tat sein Ausbruch unendlich leid, der Adrià jedoch gar nichts auszumachen schien, weil er nur dazu lächelte.
»Ja, du kannst etwas für mich tun. Einen Gefallen.«
»Selbstverständlich. Aber wie fühlst du dich? Was ist es?«
»Es ist nicht leicht zu erklären. Ich muss in ein Pflegeheim oder so.«
»Verflixt, aber dir geht es doch gut. Du siehst aus wie das blühende Leben.«
»Du musst mir einen Gefallen tun.«
Er stand auf und verschwand im hinteren Teil der Wohnung. Wo soll ich nur die Geduld hernehmen?, dachte Bernat, Tecla auf der einen Seite und auf der anderen Adrià mit seinen ewigen Geheimnissen und seiner Hypochondrie.
Adrià kam zurück mit seiner Hypochondrie und einem Geheimnis in Form eines dicken Papierstapels. Den legte er vor Bernat auf den Tisch.
»Du sollst darauf aufpassen, damit es nicht verloren geht.«
»Langsam, langsam … Seit wann bist du krank?«
»Seit …, schon lange.«
»Davon habe ich nichts gewusst.«
»Ich habe ja auch nicht gewusst, dass du dich von Tecla trennst, wenn ich es dir auch mehr als einmal angeraten hatte. Immer habe ich glauben wollen, ihr würdet euch wieder vertragen. Kann ich fortfahren?«
Wahre Freunde wissen, wie man streitet und sich versöhnt, und sie verstehen sich darauf, einander nicht alles zu sagen, der andere könnte einem ja womöglich beispringen. Das hatte Adrià vor fünfunddreißig Jahren gesagt, Bernat erinnerte sich gut daran. Und bei der Erinnerung daran verfluchte er das Leben, das uns mit so viel Tod bedenkt.
»Verzeih, aber ich bin … Natürlich, sprich weiter.«
»Vor ein paar Monaten hat man eine degenerative Gehirnerkrankung bei mir festgestellt. Und jetzt beschleunigt sich der Prozess anscheinend.«
»Scheiße.«
»Ja.«
»Du hättest es mir sagen können.«
»Hättest du mich geheilt?«
»Ich bin dein Freund.«
»Deshalb habe ich dich hergebeten.«
»Kannst du allein leben?«
»Lola Xica kommt jeden Tag.«
»Caterina.«
»Meine ich ja. Und sie bleibt ziemlich lange. Sie richtet mir das Abendessen.«
Adrià deutete auf den Packen Papier und sagte, du bist nicht nur mein Freund, sondern auch Schriftsteller.
»Ein gescheiterter«, entgegnete Bernat schroff.
»Das sagst du.«
»Und ob ich das sage. Und du hast mich immer gewarnt, verdammt noch mal.«
»Ich habe dich immer kritisiert, wie du weißt, aber ich habe dich nie als gescheitert bezeichnet.«
»Aber gedacht hast du es.«
»Du hast keine Ahnung, was hier drin vorgeht«, ereiferte sich Adrià unvermittelt
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