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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Instruments, ohne sie zu berühren. »Dieser feine Kratzer hier … wer hat den wohl gemacht? Wie ist er entstanden? War es ein Schlag? War es Absicht? Wann? Wo?«
    Dann nahm er mir das Instrument behutsam ab und murmelte träumerisch vor sich hin, so etwas macht mich glücklich. Deshalb mag ich das hier … Seine Kopfbewegung umfasste den ganzen Raum, all die Wunder, die er darin aufbewahrte. Und behutsam bettete er Vial in den Geigenkasten und sperrte diesen wieder in seinen Stahlkerker.
    In diesem Moment öffnete sich die Tür zum Klassenzimmer der Trullols. Bernat sagte mit gesenkter Stimme, damit die Lehrerin ihn nicht hörte: »So ein Quatsch, ich gehöre doch nicht der Geige. Sie gehört mir. Mein Vater hat sie mir bei Parramon gekauft. Für hundertfünfundsiebzig Peseten.«
    Und damit klappte er den Geigenkasten zu. Ich fand ihn sehr unsympathisch. Noch so jung und sperrte sich schon gegen Geheimnisse. Wir konnten unmöglich Freunde werden. Ausgeschlossen. Keine Chance. Hinterher stellte sich heraus, dass er auch im Carrer de Casp zur Schule ging und eine Klasse über mir war. Und dass er Bernat Plensa i Punsoda hieß. Das habe ich vielleicht schon erwähnt. Und dass er sehr steif war, als hätte man ihn in einer Wanne voller Haarfestiger gebadet und vergessen, ihn abzuspülen. Und sechzehn Minuten später musste ich zugeben, das dieser unangenehme Kerl, der Bernat Plensa i Punsoda hieß, sich nichts aus Geheimnissen machte und niemals mein Freund sein würde, es irgendwie fertigbrachte, die Hundertfünfundsiebzig-Peseten-Geige von Parramon so zart erklingen zu lassen, wie es mir noch nie gelungen war. Und die Trullols sah ihn zufrieden an, und ich dachte, was für eine Scheißgeige ich habe. In diesem Moment schwor ich mir, ihn für immer zum Schweigen zu bringen, ihn, die Geige der Madame d’Angoulême und den Festiger, in dem er gebadet hatte; und ich glaube, es wäre für alle viel besser gewesen, wenn ich diesen Gedanken niemals gehabt hätte. Im Augenblick beschränkte ich mich darauf, ihn allmählich reifen zu lassen. Kaum zu glauben, wie aus den harmlosesten Dingen ungeahnte Tragödien entstehen können.
    Auf halber Treppe griff Bernat in die Tasche und zog sein vibrierendes Handy heraus. Tecla. Sekundenlang zögerte er, ob er den Anruf annehmen sollte. Er trat beiseite, um eine Nachbarin vorbeizulassen, die eilig die Treppe herunterkam. Stumpfsinnig starrte er auf das erleuchtete Display, als sähe er darin die fluchende Tecla. Er steckte das Handy wieder in die Tasche und spürte kurze Zeit später, dass das Vibrieren aufgehört hatte. Wahrscheinlich stritt sich Tecla mit der Stimme der Ansagerin auf der Mailbox. Vielleicht sagte sie ihr, unddas Haus in Llançà die Hälfte des Jahres für jeden. Und die Ansagerin entgegnete, was bilden Sie sich eigentlich ein, Sie haben nie einen Fuß in dieses Haus gesetzt, und wenn, dann immer nur mit dieser angewiderten Miene, mit der Sie dem armen Bernat so gern das Leben schwer machen! Stimmt’s? Ein Hoch auf die Ansagerin von Orange, dachte Bernat. Auf dem Treppenabsatz des Zwischengeschosses hielt er einen Moment inne, bis sein Atem sich beruhigte, und als er sein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, drückte er auf die Klingel.
    Rsrsrsrsrsrsrsrs.
    Es dauerte so lange, bis aus dem Inneren der Wohnung ein Lebenszeichen kam, dass er Zeit hatte, an Tecla, Llorenç und das unerfreuliche Gespräch zu denken, das sie am Abend zuvor geführt hatten. Das Geräusch schlurfender Schritte. Ein plötzliches Klicken des Schlosses, und die Tür bewegte sich. Adrià blickte ihn über den Rand einer dieser schmalen Lesebrillen an, öffnete die Tür ganz und schaltete die Lampe im Flur ein. Das Licht glänzte auf seiner Glatze.
    »Im Treppenhaus ist mal wieder die Birne kaputt«, sagte er zur Begrüßung.
    Bernat umarmte ihn, und Adrià erwiderte die Geste nicht. Er nahm die Brille ab und sagte, danke, dass du gekommen bist.
    »Wie geht es dir?«
    »Schlecht. Und dir?«
    »Schlecht.«
    »Möchtest du etwas trinken?«
    »Nein. Doch. Ich trinke nicht mehr.«
    »Wir trinken nicht mehr, wir vögeln nicht mehr, wir schlemmen nicht mehr, wir gehen nicht mehr ins Kino, kein Buch gefällt uns mehr, die Frauen sind alle zu jung, wir kriegen ihn nicht mehr hoch, wir glauben den angeblichen Rettern der Nation nicht mehr.«
    »Gutes Programm.«
    »Wie geht es Tecla?«
    Er führte ihn ins Arbeitszimmer. Wie immer, wenn er es betrat, schaute sich Bernat mit unverhohlener Bewunderung um.

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