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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Stunden übte, um die Anfangsschwierigkeiten mit den Doppelgriffen zu überwinden, und ich hasste Doppelgriffe, denn wenn nur eine Saite erklingen sollte, erklangen drei, und wenn du einen Doppelgriff machen wolltest, kam nur ein Ton heraus, bis du die Geige am liebsten gegen die Wand geknallt hättest, weil du den Fingersatz nicht hinbekamst, und eine Platte von jemandem wie Jossif Ruwimowitsch Heifetz auflegtest, der so perfekt spielte, dass dir schwindlig wurde, und ich wollte aus dreierlei Gründen Heifetz sein: Erstens, weil seine Trullewitschowa gewiss nicht zu ihm sagte, nein, Jascha, der dritte Finger muss mit der Hand mitgehen, du darfst ihn nicht einfach mitten auf dem Griffbrett vergessen, herrje, Jascha Ardèvol! Zweitens, weil er immer alles richtig machte; drittens, weil er gewiss nicht so einen Vater hatte wie ich; und viertens, weil ein Wunderkind zu sein laut Heifetz eine schwere Krankheit war, die er aus verschiedenen Gründen überlebt hatte und die ich überlebt habe, weil ich nie ein echtes Wunderkind war, so hart das für meinen Vater auch sein mochte.
    »Howgh.«
    »Was gibt’s, Schwarzer Adler?«
    »Du hast drei gesagt.«
    »Drei was?«
    »Drei Gründe, Jascha Heifetz zu sein.«
    Manchmal gerät mir alles durcheinander. Und es wird mit jedem Tag schlimmer, je länger ich über all das schreibe. Ich weiß nicht, ob ich bis zum Schluss durchhalte.
    Wenn in meiner trostlosen Kindheit etwas außer Zweifel stand, dann war es das ungeheure pädagogische Geschick meines Vaters. Als Lola Xica mich einmal in Schutz nahm, fuhr er sie an, was zum Geier faselst du da? Deutsch und Geige, und deshalb soll er nicht Englisch lernen können? Ist mein Sohn ein Waschlappen oder was? Abgesehen davon steht es dir gar nicht zu … Und warum rede ich überhaupt mit dir darüber?
    Lola Xica verließ das Arbeitszimmer eher zornig als gekränkt. Alles hatte damit angefangen, dass Vater verkündete, ich müsse mir die Montage freihalten, um bei Mister Prats, einem sehr tüchtigen jungen Mann, mit dem Englischunterricht anzufangen, und mir verschlug es die Sprache, denn ich wollte zwar liebend gern Englisch lernen, aber ich wollte nicht, dass Vater … Und ich sah meine Mutter an, während ich schweigend das gekochte Gemüse aufaß und Lola Xica die leere Schüssel in die Küche trug. Doch Mutter gab keinen Mucks von sich; sie ließ mich im Stich, also sagte ich, ich brauchte Zeit für die Geige, weil die Doppelgriffe …
    »Ausreden. Die Doppelgriffe … Schau dir jeden beliebigen Geiger an und sag ja nicht, du könntest nicht, was jeder beliebige kann.«
    »Ich habe zu wenig Zeit.«
    »Nimm sie dir, du bist jung. Oder du hörst mit dem Geigespielen auf, lass dir das gesagt sein.«
    Tags darauf war ein Streit zwischen meiner Mutter und Lola Xica entbrannt, den ich nicht verfolgen konnte, weil ich im Bügelzimmer keinen Lauschposten hatte. Und einige Tagelegte sich Lola Xica dann mit meinem Vater an. Und lief eher zornig als gekränkt hinaus. Jedenfalls war sie die einzige Person, die es wagte, ihm furchtlos die Stirn zu bieten. Und bereits am Montag vor den Weihnachtsferien konnte ich nicht mehr mit Bernat durch die Straßen trödeln.
    »One.«
    »Uan.«
    »Two.«
    »Tu.«
    »Three.«
    »Ssrii.«
    »Four.«
    »Foa.«
    »Four.«
    »Fuoa …«
    »Fffoouur.«
    »Fffooa.«
    »It’s all right.«
    Am Englischen faszinierte mich die Aussprache, immer so herrlich unerwartet, wenn man das geschriebene Wort vor sich hatte. Und ich staunte über die Einfachheit der Morphologie. Und die subtile lexikalische Verwandtschaft mit dem Deutschen. Und Mister Prats war so extrem schüchtern, dass er mir nicht einmal ins Gesicht sah, als er mich zum ersten Mal einen Text vorlesen ließ, auf den ich aus Geschmacksgründen nicht näher eingehen möchte. Um dir eine Vorstellung zu geben: Es ging darum, ob mein Bleistift auf oder unter dem Tisch lag, und die überraschende Wendung der Geschichte bestand darin, dass er in meiner Tasche steckte.
    »Wie läuft es mit dem Englischen?«, fragte mich mein Vater ungeduldig zehn Minuten nach der ersten Stunde beim Abendessen.
    »It’s all right«, erwiderte ich mit gleichgültiger Miene. Und es ärgerte mich, weil ich es im Grunde meines Herzens und trotz meines Vaters kaum erwarten konnte zu erfahren, wie man eins, zwei, drei, vier auf Aramäisch sagt.
    »Kann ich zwei haben?«, fragte Bernat, anspruchsvoll wie immer.
    »Na klar.«
    Lola Xica gab ihm zwei Riegel Schokolade und reichte nach kurzem

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