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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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Schweigen zurück; ich habe nie verstanden, wie dein Vater den ganzen lieben langen Tag so gedankenverloren und stumm sein konnte, mein Sohn.Ein ganzes Leben lang gedankenverloren und stumm. Und hin und wieder brüllte er jemanden an oder verpasste dem, der gerade in Reichweite war, eine Ohrfeige, vermutlich weil ihm diese italienische Nutte in den Sinn kam, und weil er ihr nachtrauerte, schenkte er ihr auch noch ein Haus.
    »Woher wussten Sie, dass mein Mann gestorben ist?«
    Mein Engel sah meiner Mutter in die Augen und überhörte die Frage.
    »Er hat es mir versprochen. Nein, er hat mir geschworen, mich in seinem Testament zu berücksichtigen.«
    »Dann sollten Sie mittlerweile wissen, dass Sie nicht berücksichtigt sind.«
    »Er hatte nicht damit gerechnet, so früh zu sterben.«
    »Auf Wiedersehen. Grüßen Sie Ihre Mutter.«
    »Sie ist auch tot.«
    Mutter sagte weder mein Beileid noch etwas Ähnliches. Sie öffnete die Tür, und im Hinausgehen wandte sich mein Engel noch einmal zu ihr um und bekräftigte: »Ein Teil des Geschäfts gehört mir, und ich werde mit allen Mitteln dafür kämpfen, dass …«
    »Auf Wiedersehen.«
    Die Tür zur Straße fiel mit Wucht ins Schloss wie an dem Tag, als mein Vater aus dem Haus gegangen war und sich hatte umbringen lassen. Offen gestanden wurde ich aus dem Gehörten nicht schlau. Ich hatte nur einen vagen Verdacht. Der Ablativus absolutus barg damals keine Geheimnisse für mich, das Leben dafür umso mehr. Mutter ging ins Arbeitszimmer zurück, schloss sich ein, kramte eine Weile im Tresor herum, brachte eine kleine grüne Schachtel zum Vorschein, schob die rosa Watte beiseite und zog ein Kettchen heraus, an dem ein sehr hübsches goldenes Medaillon hing, packte es wieder ein und warf es in den Papierkorb. Dann ließ sie sich aufs Sofa fallen und vergoss all die seit ihrem Hochzeitstag zurückgehaltenen Tränen, beißende Tränen, weil sich Wut und Schmerz darin mischten.
    Ich stellte es geschickt an. In Begleitung des listigen Schwarzen Adlers (ja, das war kindisch, aber manchmal brauchte ich moralische Unterstützung) schlüpfte ich, als alle schliefen, in Vaters Arbeitszimmer und grub tastend im Papierkorb, bis ich das rechteckige Kästchen gefunden hatte. Ich holte es heraus, und ein Wink des tapferen Arapaho verhinderte, dass ich eine Dummheit beging. Seinen Anweisungen folgend, schaltete ich das Licht der Lupe ein, öffnete die Schachtel, nahm das Medaillon, machte die Schachtel wieder zu und versenkte sie leise tief unten im Papierkorb. Adrià löschte die Lupenlampe und verzog sich mit seiner Beute wieder in sein Zimmer. Unter Missachtung der ungeschriebenen Regel, dass die Türen der Wohnung nie geschlossen, sondern immer nur angelehnt sein durften, machte er die Tür zu, knipste die Nachttischlampe an, nickte Schwarzer Adler dankbar zu und besah sich das Medaillon mit vor Aufregung klopfendem Herzen. Es zeigte eine eher schlichte Madonna, wahrscheinlich das Abbild einer romanischen Statue, die entfernt an die Moreneta erinnerte und ein mageres Jesuskind in den Armen hielt. Den ungewöhnlichen Hintergrund bildete ein großer Baum mit dichten Ästen. Die Rückseite, wo ich des Rätsels Lösung zu finden hoffte, war leer bis auf das grob eingeritzte Wort Pardàc. Sonst nichts. Ich schnupperte an dem Medaillon, um festzustellen, ob es nach Engel roch, denn unwillkürlich war ich überzeugt, dass es eng mit meiner großen, einzigen und ewigen italienischen Liebe verbunden war.

14
    Mutter pflegte die Vormittage im Laden zu verbringen. Sobald sie ihn betrat, hob sie die Augenbrauen und senkte sie erst wieder, wenn sie ihn verließ. Sobald sie ihn betrat, fühlte sie sich nur noch von Feinden umgeben, denen sie nicht trauen konnte. Anscheinend war das eine gute Methode. Gleich zu Beginn attackierte sie Senyor Berenguer und siegte, weil ihr Überraschungsangriff ihn so überraschend traf, dass er ihr nichts entgegenzusetzen hatte. Das hat er mir selbst erzählt, als er schon uralt war, und ich glaubte, einen Anflug von Bewunderung für seine Intimfeindin herauszuhören. Ich hätte nie gedacht, dass deine Mutter wüsste, was ein Schuldschein ist oder worin der Unterschied zwischen Ebenholz und Kirschholz besteht. Aber sie wusste es, und sie wusste noch viel mehr über die grauen Geschäfte deines Vaters.
    »Graue Geschäfte?«
    »Besser gesagt, schwarze.«
    Meine Mutter übernahm also das Kommando im Laden und sagte, du tust dies und Sie tun jenes, ohne ihnen in die Augen

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