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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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seinem Schicksal überlassen hatte. Ich nahm zwei Stufen auf einmal und dachte, der Engel müsse längst davongeflogen sein, während ich auf dem Heimweg herumgetrödelt hatte, und dachte, dass ich mir das niemals verzeihen würde, und klingelte stürmisch, und Lola öffnete, und ich schob sie zur Seite und schaute zum Hocker. Das rote Lächeln umfing mich aufs Neue mit einem betörenden Ciao, und ich war der glücklichste Geiger der Welt.
    Drei Stunden nach dieser wundersamen Erscheinung traf mit sorgenvoller Miene meine Mutter ein, und als sie den Engel in der Diele sitzen sah, tauschte sie einen Blick mit Lola Xica, die herausgekommen war, um sie zu empfangen, und dann machte sie dieses Gesicht, das sie immer macht, wenn sie eine Sache durchschaut hat, denn sie gestattete dem Engel nicht einmal, sich vorzustellen, sondern nahm ihn sofort mit in Vaters Arbeitszimmer. Nach drei Minuten begann das Geschrei.
    Ein Gespräch deutlich zu hören und zu verstehen, um was es dabei geht, sind zwei sehr verschiedene Dinge. Das von Adrià eingesetzte Bespitzelungssystem, mit dem er das Arbeitszimmer seines Vaters kontrollierte, war kompliziert und musste seiner zunehmenden Körpergröße angepasst werden, denn das Versteck hinter dem Sofa war längst nicht mehr zu gebrauchen. Als ich die ersten Schreie hörte, glaubte ich, meinen Engel irgendwie vor dem Zorn meiner Mutter beschützen zu müssen. Die Kammer mit den Wäscheschränkenhatte eine Tür zur Galerie und zur Waschküche, und dort gab es ein Milchglasfenster, das nie geöffnet wurde und zum Arbeitszimmer meines Vaters führte. Und unter diesem Fenster hockend konnte ich das Gespräch mit anhören. Als wäre ich dabei. Zu Hause war ich immer überall dabei. Fast. Mutter war bleich, hatte soeben einen Brief gelesen und starrte auf die Wand.
    »Und woher weiß ich, dass das wahr ist?«
    »Weil ich Can Casic in Tona geerbt habe.«
    »Wie bitte?«
    Zur Antwort reichte mein Engel ihr ein weiteres Dokument, mit dem der Notar Garolera aus Vic die Übereignung des gesamten Anwesens beglaubigt hatte, einschließlich der Scheune, des Weihers, des Heuschobers und der drei Äcker von Can Casic, und zwar an Daniela Amato, geboren am 25. Dezember 1919 in Rom als Tochter von Carolina Amato, Vater unbekannt.
    »Can Casic in Tona?« Schneidend: »Das gehörte Fèlix gar nicht.«
    »Doch. Und jetzt gehört es mir.«
    Mutter versuchte das Zittern der Hand, in der sie das Dokument hielt, zu überspielen. Mit abfälliger Geste gab sie es seiner Eigentümerin zurück.
    »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen. Um was geht es?«
    »Um den Laden. Ich habe Anspruch darauf.«
    Aus dem Tonfall schloss ich, dass mein Engel dies mit einem bezaubernden Lächeln gesagt hatte, für das ich sie am liebsten abgeküsst hätte. Ich an Mutters Stelle hätte ihr den Laden und alles andere gegeben, unter der Bedingung, dass sie immer dieses Lächeln beibehalten möge. Doch stattdessen stieß Mutter ein Lachen aus, als amüsierte sie sich prächtig, ein aufgesetztes Lachen, das sie erst kürzlich in ihr Repertoire aufgenommen hatte. Ich bekam es mit der Angst zu tun, denn noch war mir diese Facette meiner Mutter nicht vertraut, diese herzlose, engelfeindliche Facette; ich kannte Mutter nur mit gesenktem Blick, wenn sie meinem Vater gegenüberstand, oder geistesabwesend und unnahbar, nachdem sie verwitwet war und die Planung meiner Zukunft in die Hand genommen hatte. Aber noch nie hatte ich sie mit den Fingern schnippen sehen, wie jetzt, als sie die Besitzurkunde von Can Casic noch einmal zu sehen verlangte und nach kurzem Schweigen sagte, dieses bbeschissene Dokument ist mir völlig egal.
    »Es ist ein amtliches Papier. Und ich habe ein Recht auf meinen Anteil am Laden. Deshalb bin ich hier.«
    »Ich werde jedes Angebot, das Sie mir machen, über meinen Anwalt ablehnen lassen. Jedes.«
    »Ich bin die Tochter Ihres Gatten.«
    »Und wenn Sie behaupten, Sie seien die Tochter von Greta Garbo. Das ist ein Schwindel.«
    Mein Engel sagte nein, Senyora Ardèvol, es ist kein Schwindel. Langsam ließ sie den Blick durch den Raum schweifen und wiederholte, es ist kein Schwindel. Ich war vor fünfzehn Jahren schon einmal in diesem Raum, zusammen mit meiner Mutter. Auch damals hat man mir keinen Stuhl angeboten.
    »Was für eine Überraschung, Carolina«, sagte Fèlix Ardèvol und bekam vor Entsetzen den Mund nicht mehr zu. Seine Stimme klang schrill vor Schreck. Er bat die Frau und das junge Mädchen herein und führte

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