Das Schweigen des Sammlers
wieder in anklagendem Ton: »Man hat mir gesagt, du hättest überall Einsen.«
»Na ja, das ist doch kein Kunststück«, verteidigte ich mich.
»Warum nicht?«
»Weil es leicht ist. Und weil ich ein gutes Gedächtnis habe.«
»Ja?«
»Ja. Ich merke mir alles.«
»Kannst du auch ohne Partitur spielen?«
»Na klar. Wenn ich sie einmal gelesen habe.«
»Beeindruckend.«
»Nein. Weil ich kein absolutes Gehör habe. Plensa hat es.«
»Wer?«
»Plensa aus der Vier C. Er spielt mit mir Geige.«
»Plensa? So ein etwas Größerer, Blonder?«
»Ja, der.«
»Und er spielt auch Geige?«
Was wollte dieser Mann von mir? Wozu dieses Verhör? Worauf lief das hinaus? Ich nickte und dachte, dass ich Bernat womöglich keinen Gefallen tat, wenn ich diese Dinge ausplauderte.
»Und man sagt, du kannst auch Sprachen.«
»Nein.«
»Nein?«
»Na ja, Französisch … Das haben wir in der Schule.«
»Seit einem Jahr, aber wie es heißt, sprichst du es bereits.«
»Ich …« Was soll ich denn jetzt sagen?
»Und Deutsch.«
»Also …«
»Und Englisch.«
Er sagte es, als handelte es sich um einen wunden Punkt, als hätte er mich auf frischer Tat ertappt, und Adrià ging in die Defensive. Er gestand, ja, Englisch auch.
»Und das hast du auf eigene Faust gelernt.«
»Nein«, sagte ich aufatmend, »das ist nicht wahr. Ich nehme Unterricht.«
»Also, mir hat man gesagt …«
»Nein, das ist Italienisch.« Kleinlaut: »Das lerne ich allein.«
»Unglaublich.«
»Nein, es ist ganz einfach. Romanisches Vokabular. Wenn man Katalanisch, Spanisch und Französisch kann, ist es ein Klacks; sehr leicht, meine ich.«
Pater Bartrina sah ihn schräg an, als überlegte er, ob dieser Schlingel ihn auf den Arm nehmen wollte. Adrià sagte entschuldigend: »Aber meine Aussprache in Italienisch ist bestimmt schlecht.«
»Ach ja?«
»Ja. Sie betonen die Wörter, wie ich sie nie betonen würde.«
Nach einer endlosen Minute des Schweigens: »Was willst du mal machen, wenn du groß bist?«
»Ich weiß nicht. Lesen. Studieren. Ich weiß nicht.«
Schweigen. Pater Bartrina ging ein paar Schritte Richtung Balkon. Aus den Tiefen seiner Soutane zog er ein blütenweißes Taschentuch und tupfte sich nachdenklich den Mund ab. Der Verkehr auf dem Carrer de Llúria war dicht und mit einem Mal lästig. Pater Bartrina wandte sich dem Jungen zu, und anscheinend fiel ihm erst in diesem Moment auf, dass der immer noch mitten im Raum stand.
»Setz dich, setz dich.«
Ich setzte mich in eine Bank, ohne zu begreifen, was dieserMann von mir wollte. Er trat zu mir und setzte sich in die Bank neben mir. Er sah mir in die Augen.
»Ich spiele Klavier.«
Schweigen. Das hatte ich mir schon gedacht, denn im Unterricht schlug er die Akkorde auf dem Klavier an, wenn wir verschlafen Stimm- und Gehörübungen machten. So zwang er uns auch, bei der Sache zu bleiben. Offenbar wusste er nicht weiter. Doch dann fasste er einen Entschluss: »Wir könnten die Kreutzer-Sonate für die Jahresabschlussfeier einstudieren. Was hältst du davon? Im Palau de la Música! Fändest du es nicht schön, im Palau de la Música zu spielen?«
Ich schwieg. Ich stellte mir vor, wie mich alle Kinder Schwuchtel nannten und ich auf der Bühne versuchte, perfekt zu sein. Die reinste Hölle.
»Das ist die, die du im Casal del Metge spielen solltest. Die kannst du doch sicher auswendig, oder?«
Zum ersten Mal verzog er das Gesicht zu einem Lächeln, um mich zu ermutigen. Um mich zu überzeugen. Damit ich ja sagte. Und ich schwieg weiter, denn ich hatte einen genialen Einfall. Ich dachte plötzlich, er als Musiker könne mir vielleicht helfen, und fragte ihn, Pater Bartrina, nennt man Sie auch Schwuchtel?
Adrià Ardèvol i Bosch aus der Drei A wurde aus unerfindlichen Gründen, die man auch seiner Mutter nicht mitteilte, für drei Tage vom Unterricht ausgeschlossen. Für seine Klassenkameraden litt er an einer Halsentzündung. Und Bernat erzählte ich, nun, als ich ihn fragte, ob er auch eine Schwuchtel sei wie ich, da wurde der Kerl fuchsteufelswild.
»Bist du denn eine Schwuchtel?«
»Was weiß denn ich! Esteban sagt ja, weil ich Geige spiele. Dann bist du also auch eine. Und Pater Bartrina, falls das auch fürs Klavier gilt.«
»Und Jascha Heifetz.«
»Ja. Vermutlich. Und Pau Casals.«
»Ja. Aber zu mir hat das noch keiner gesagt.«
»Weil keiner weiß, dass du Geige spielst. Bartrina hat es nicht gewusst.«
Kurz vor dem Konservatorium blieben die beiden Freunde auf der Straße
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