Das Schweigen des Sammlers
stehen, gleichgültig gegenüber dem lebhaften Verkehr auf dem Carrer del Bruc. Bernat hatte eine Idee: »Warum fragst du nicht deine Mutter?«
»Und warum fragst du nicht deine? Oder deinen Vater, du hast schließlich einen.«
»Mich haben sie nicht rausgeschmissen, weil ich jemanden Schwuchtel genannt habe.«
»Und wenn wir die Trullols fragen?«
An diesem Tag beschloss Adrià, am Unterricht der Trullols teilzunehmen, in der Hoffnung, Maestro Manlleu damit endgültig zu vergraulen. Die Lehrerin freute sich, ihn zu sehen, stellte fest, dass er Fortschritte gemacht hatte, und erwähnte den Vorfall im Casal del Metge, von dem sie mit Sicherheit wusste, mit keiner Silbe. Sie fragten die Trullols nicht nach dem Rätsel des Wortes Schwuchtel; sie beschwerte sich, weil sie meinte, die beiden würden absichtlich falsch spielen, um sie zu schikanieren, was nicht stimmte. Vielmehr hatten wir im Hereinkommen einen Jungen gehört, der jünger war als wir und Claret hieß, glaube ich; er war bei irgendjemandem zu Besuch und spielte Geige wie ein Zwanzigjähriger. Und statt begeistert zu sein, fühlte ich mich klein.
»Klein? Ich nicht. Mich packt die Wut, und ich übe umso mehr.«
»Du wirst mal ein großer Geiger, Bernat.«
»Du auch.«
Es war ungewöhnlich, dass Kinder in Bernats und Adriàs Alter solche Gespräch führten. Aber eine Geige in den Händen zu halten verändert die Menschen.
Am Abend log Adrià seine Mutter an. Man habe ihm drei Tage Schulverbot erteilt, weil er einen Lehrer ausgelacht habe, der etwas nicht wusste. Seine Mutter, die mit ihren Gedanken im Laden und bei Danielas engelhaften Machenschaften war, hielt ihm eine sehr utilitaristische und eher halbherzige Predigt. Sie sagte, du musst wissen, dass Gott dich mit einer außergewöhnlichen Intelligenz gesegnet hat. Vergiss also nicht, dass dies nicht dein Verdienst, sondern eine Gabe der Natur ist. Adrià fiel auf, dass seine Mutter seit dem Tod des Vaters wieder von Gott sprach, auch wenn sie ihn mit der Natur vermengte. Am Ende stellt sich noch heraus, dass Gott doch existiert, und ich weiß von nichts.
»In Ordnung, Mutter. Es wird nicht wieder vorkommen. Entschuldige.«
»Nein. Entschuldigen musst du dich bei deinem Lehrer.«
»Ja, Mutter.«
Sie fragte nicht, um welchen Lehrer es sich handelte, was genau Adrià gesagt und was der Lehrer ihm geantwortet hatte. Sie war wie verwandelt. Und kaum hatten sie zu Abend gegessen, schloss sie sich in Vaters Arbeitszimmer ein, wo auf dem Tisch der Inkunabeln mehrere aufgeschlagene Kassenbücher lagen.
Als Lola Xica den Tisch abdeckte und die Küche aufräumte, trieb sich Adrià in ihrer Nähe herum, als wollte er ihr zur Hand gehen, und sobald er sah, dass seine Mutter im Arbeitszimmer beschäftigt war, ging er in die Küche, lehnte die Tür an, und bevor ihn der Mut wieder verließ, fragte er, Lola Xica, kannst du mir erklären, warum sie in der Schule Schwuchtel zu mir sagen?
An diesem Abend fand ich keinen Schlaf, denn der bloße Gedanke, Bernat aufklären zu können, der ja immer alles wusste, was nichts mit dem Lehrstoff zu tun hatte, hielt mich so lange wach, dass ich noch hörte, wie die Glocken der Empfängniskirche elf schlugen und der Stab des Nachtwächters gegen die Metalltüren von Can Solà klopfte, dass es durchs gesamte Viertel hallte; damals, als Franco regierte und die Erde für uns wieder zur Scheibe wurde; als ich ein kleiner Junge war und dich noch nicht kannte; als Barcelona noch eine Stadt war, die, wenn es Nacht wurde, ebenfalls schlafen ging.
III Et in Arcadia ego
Als ich jung war, kämpfte ich darum, ich selber zu sein; inzwischen gebe ich mich damit zufrieden, zu sein, wie ich bin.
JOSEP MARIA MORRERES
16
Adrià Ardèvol war reifer geworden. Die Zeit war nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Mittlerweile wusste er, was Schwuchtel hieß, und hatte sogar die Bedeutung von Theodizee herausgefunden. Schwarzer Adler, der Arapaho-Häuptling, und der hartgesottene Sheriff Carson standen, von Wüstenstaub bedeckt, im Regal bei den Büchern von Salgari, Karl May, Zane Grey und Jules Verne. Doch der unerbittlichen Bevormundung durch seine Mutter war er noch immer nicht entronnen. Mein Gehorsam hatte mich zu einem technisch versierten, aber seelenlosen Geiger gemacht. Zu einem Bernat zweiter Klasse. Selbst meine beschämende Flucht vor dem ersten öffentlichen Auftritt wurde letztlich als Krise eines Genies hingenommen. Die Beziehung zwischen Maestro Manlleu und
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