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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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sein. Ich will lesen. Und ich habe kein Lampenfieber.«
    »Bernat, ich will kein Geiger sein.«
    »Sag das nicht, dann werde ich sauer. Du spielst toll, und es scheint dir doch ganz leicht von der Hand zu gehen. Das ist nur das Lampenfieber.«
    »Geige spielen finde ich ja gut, aber ich will kein Geiger sein. Ich will nicht. Und ich habe kein Lampenfieber.«
    »Was immer du tust, nimm auf jeden Fall weiter Unterricht.«
    Dabei ging es Bernat nicht etwa um mein geistiges Wohlbefinden oder meine Zukunft. Vielmehr ging es ihm um Manlleus Unterricht, dem er weiterhin aus zweiter Hand folgte. Seine Technik machte gute Fortschritte, er langweilte sich nicht, er hatte sein Instrument nicht satt, und er litt nicht an Magenschmerzen, weil ich ihm Manlleu ersparte. Zusätzlich studierte er auf direkte Empfehlung der Trullols inzwischen bei Massià.
    Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, begriff Adrià Ardèvol, dass er in seiner Verweigerung einer Solistenkarriere die einzige Waffe gefunden hatte, um sich gegen seine Mutter und Maestro Manlleu aufzulehnen. Seine Stimme begann bereits unkontrollierbar zu kieksen, als er eines Tages zu Maestro Manlleu sagte, ich will Musik machen.
    »Was?«
    »Ich will Brahms, Bartók, Schumann spielen. Ich hasse Sarasate.«
    Maestro Manlleu verfiel für mehrere Wochen in Schweigen und erteilte seine Lektionen nur mit stummen Gesten, bis er eines Freitags einen spannendicken Stapel Partituren aufs Klavier legte und sagte, na los, frischen wir das Repertoire auf. Es war das einzige Mal, dass Maestro Manlleu ihm recht gab. Sein Vater hatte ihm ein einziges Mal recht gegeben, es ihm aber ausdrücklich zugestanden. Maestro Manlleu sagte lediglich, na los, frischen wir das Repertoire auf. Und aus Rache dafür, dass er mir hatte recht geben müssen, fegte er die ständig herabrieselnden Kopfschuppen von seiner dunklen Hose und sagte, nächsten Monat, am zwanzigsten, im Debussy-Saal in Paris. Die Kreutzer-Sonate, die von César Franck, die dritte von Brahms und nur als Zugabe einen Wieniawski und einen Paganini, um Eindruck zu schinden. Zufrieden?
    Das Gespenst des Lampenfiebers erschien; ich litt nämlich unter maßlosem Lampenfieber, geschickt bemäntelt durchmeine schöne Theorie von der Liebe zur Musik, die kalte Perfektion nicht zuließ, et cetera … Das Gespenst des Lampenfiebers war wieder da, und Adrià brach der Schweiß aus.
    »Wer wird Klavier spielen?«
    »Irgendein Klavierbegleiter. Ich suche dir schon jemanden.«
    »Nein. Jemanden, der … Das Klavier begleitet mich nicht, es spielt mit mir zusammen.«
    »Papperlapapp, du hast das Sagen. Ja oder nein? Ich suche dir einen geeigneten Pianisten. Drei Proben. Und jetzt lesen wir erst einmal. Fangen wir mit Brahms an.«
    Und allmählich bekam Adrià das Gefühl, das Geigespielen könnte vielleicht doch ein Weg sein, im Leben zurechtzukommen, mit den Geheimnissen der Einsamkeit, mit der Erkenntnis, dass Wünsche sich nie an die Wirklichkeit halten, mit dem Bedürfnis zu ergründen, was seinem Vater zugestoßen war.
    Der geeignete Pianist war Maestro Castells, ein guter Klavierspieler, schüchtern, imstande, sich bei der kleinsten Rüge Maestro Manlleus unter den Tasten zu verkriechen, und, wie Adrià sofort erkannte, auch ein Teil der umfangreichen Finanzaktion Senyora Ardèvols, die ein Heidengeld ausgab, um ihren Sohn in Paris auftreten zu sehen, in einem Kammermusiksaal der Salle Pleyel mit hundert Sitzplätzen, von denen gut vierzig verkauft waren. Die Musiker reisten getrennt an, um sich unterwegs auf ihre Arbeit vorzubereiten; Senyor Castells und Adrià dritter Klasse, Maestro Manlleu erster Klasse, damit er sich besser auf seine vielfältigen Aufgaben konzentrieren konnte. Die Musiker bekämpften ihre Schlaflosigkeit mit der Lektüre ihrer Konzertpartituren, und Adrià amüsierte sich über Maestro Castells, der die Stücke vorsang und ihm seine Einsätze gab, und er ging darauf ein, tat, als spielte er, und summte leise mit. Währenddessen kam ein Bahnbediensteter herein, um die Betten zu machen, der denken musste, das Abteil sei von Geisteskranken besetzt. Als sie Lyon hinter sich gelassen hatten, es war bereits Nacht, gestand MaestroCastells Adrià, dass Maestro Manlleu ihn fest an der Kandare habe und Adrià ihm deshalb einen Gefallen tun müsse. Adrià sollte Maestro Manlleu bitten, ihnen vor dem Konzert einen Spaziergang zu gestatten, weil …, weil ich meine Schwester sehen muss und Maestro Manlleu nicht will, dass

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