Das Schweigen des Sammlers
nur nicht, ich bin ständig hart an der Grenze. Wenn ich beim Spielen lächle, dann nicht vor Freude, sondern um die Panik im Zaum zu halten. Die Geige ist so tückisch wie das Horn, jeden Augenblick kann dir ein falscher Ton entwischen. Trotzdem gebe ich mich nicht geschlagen und bin nicht so ein Waschlappen wie du. Ich will es bis zur zehnten Klasse schaffen, und dannwird sich zeigen, ob ich weitermache oder nicht. Hör nach der zehnten auf.
»Der Tag wird kommen, Bernat, an dem du beim Geigespielen vor Freude lächelst.«
Ich fühlte mich wie ein Prophet, doch wenn man bedenkt, wie es uns ergangen ist, weiß ich nicht, was ich von meiner Prophezeiung halten soll.
»Hör nach der zehnten auf.«
»Nein. Nach dem Examen im Juni. Aus ästhetischen Gründen. Und wenn du mir auf die Nerven gehst, schmeiße ich es sofort hin und zur Hölle mit der Ästhetik.«
Und immerzu fiel der Schnee. Wir legten den Weg zu meinem Haus schweigend zurück. Er ließ mich vor der dunklen Holztür stehen, ohne mir gute Nacht zu sagen, ohne eine freundschaftliche Geste.
Mit Bernat habe ich mich im Lauf des Lebens etliche Male gestritten. Dies war unser erster großer Streit, der erste, der Narben hinterließ. Die Weihnachtsferien verlebten wir in einer ungewöhnlichen Schneelandschaft. Daheim meine stille Mutter, Lola Xica, der nichts entging, und ich, der ich immer mehr Zeit im Arbeitszimmer meines Vaters verbrachte, auf das ich mir, als Prämie für gute Zeugnisse, nach und nach ein Besitzrecht erobert hatte, ein Ort, der eine wachsende Anziehungskraft auf mich ausübte. Am Morgen des zweiten Weihnachtstags spazierte ich durch die weißen Straßen und sah Bernat, der am oberen Ende des Carrer del Bruc wohnte, mit der Geige auf dem Rücken auf Skiern die Straße heruntergleiten. Er sah mich, sagte aber nichts. Ich gebe zu, dass ich mich in einem Anfall von Eifersucht sofort fragte, bei wem er wohl spielte, der Mistkerl, ohne mir ein Wort zu sagen. Mit seinen immerhin neunzehn, zwanzig Jahren von kindlicher Eifersucht getrieben, versuchte Adrià, ihn einzuholen, doch zu Fuß war er dem Tempo der Skier nicht gewachsen, sodass Bernat bald nur noch die Größe einer Krippenfigur hatte und schon fast an der Gran Via war. Was für ein lächerliches Schauspiel, wie er hinter seinem Schal keuchend um Atem rang und dem Freund nachblickte, der ihn verlassen hatte.Ich habe nie erfahren, zu wem er an diesem Tag unterwegs war, und gäbe … fast hätte ich gesagt, mein halbes Leben, aber das klingt in meinem Alter unsinnig. Und trotzdem, verdammt noch mal, gäbe ich noch heute mein halbes Leben dafür, wenn ich wüsste, bei wem er an diesem Tag in den Weihnachtsferien Geige gespielt hat, als Barcelona unerwartet knietief im Schnee versank.
Am Abend grub ich verzweifelt in den Taschen meines Mantels, der Jacke und der Hose und fluchte auf Gott und die Welt, weil ich den Programmzettel des Konzerts nicht finden konnte.
»Sara Voltes-Epstein? Nein. Kenne ich nicht. Frag mal in der Bethlehem-Gemeinde nach, da finden manchmal solche Sachen statt.«
Durch immer schmutzigeren Schnee stapfend, klapperte ich zwanzig Kirchengemeinden ab, bis ich sie gefunden hatte: im Stadtteil Poble Sec in einer sehr bescheidenen Pfarrei in einem noch bescheideneren fast verwaisten Raum hingen an drei Wänden beeindruckende Kohlezeichnungen. Sechs oder sieben Porträts und ein paar Landschaften. Auf einem mit dem Titel Onkel Chaim nahm mich die Trauer im Blick des Mannes gefangen. Und ein Hund, der einfach großartig war. Und ein Haus am Meer, unter dem Platgeta de Portlligat stand. Wie oft habe ich diese Zeichnungen betrachtet, Sara. Dieses Mädchen war eine herausragende Künstlerin. Eine halbe Stunde lang bekam ich vor Staunen den Mund nicht zu, bis dicht an meinem Nacken ihre tadelnde Stimme erklang und ich sie sagen hörte, ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht kommen.
Ich drehte mich um, die Entschuldigung schon auf der Zunge, brachte aber nur verlegen hervor, ich war zufällig in der Nähe und … Lächelnd verzieh sie mir. Und du fragtest leise und schüchtern:
»Wie findest du es?«
18
»Mutter.«
»Was ist?«, fragte sie, ohne den Kopf von den Papieren auf dem Tisch zu heben, der eigentlich zur Lektüre von Dokumenten und Handschriften diente.
»Hörst du mir zu?«
Doch sie las eifrig in den Finanzberichten Caturlas, des Mannes, den sie engagiert hatte, um im Laden klar Schiff zu machen. Ich wusste, dass sie mich nicht beachtete, aber jetzt oder
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