Das Schweigen des Sammlers
sich um, sah sie an und sagte, hallo, Prinzessin, wie geht’s dir? Wie geht’s deiner Mutter?
Und er kam auf sie zu und gab ihr einen Kuss. Uns nahm er nicht einmal wahr. Maestro Toldrà sagte, Heifetz sei von den Schmierereien, die es offenbar in der ganzen Umgebung des Palau gab, tief getroffen; er habe das morgige Konzert abgesagt und werde das Land verlassen. Es ist nicht der richtige Moment, ihn zu belästigen, verstehst du?
Als das Konzert vorbei war und wir wieder auf der Straße standen, sahen wir tatsächlich die mit Teerfarbe geschriebenen Parolen, die auf dem Veranstaltungsplakat und ringsum an den Mauern die Juden aufforderten zu verschwinden.
»Ich an seiner Stelle hätte das Konzert morgen gegeben«, sagte Adrià, der künftige Ideenhistoriker, der nichts von der Geschichte der Menschheit wusste. Sara flüsterte ihm ins Ohr, sie habe es sehr eilig und er solle sie anrufen, und Adrià, der innerlich noch mit Heifetz beschäftigt war, sagte nur gedankenverloren, ja, ja, und danke.
»Ich gebe das Geigespielen auf«, sagte ich zu dem geschändeten Plakat, zu dem verdutzten Bernat und zu mir selbst;zeit meines Lebens habe ich mich daran erinnert, wie ich vor dem geschändeten Plakat, vor dem verdutzten Bernat und vor mir selbst sagte, ich gebe das Geigespielen auf.
»Aber … Aber …« Bernat nickte zum Palau hinüber, als wollte er sagen, aber einen besseren Ansporn kann es doch gar nicht geben.
»Ich gebe das Geigespielen auf. Ich werde niemals so spielen können.«
»Üb.«
»Quatsch. Ich gebe es auf. Es ist unmöglich. Ich mache die siebte Klasse noch zu Ende, lege die Prüfung ab und höre auf. Finito. Assez. Schluss. Basta.«
»Wer war das?«
»Wer?«
»Na, die.« Er wies auf Saras immer noch spürbare Aura. »Unsere Ariadne, die uns zu Maestro Toldrà geführt hat. Die du anrufen sollst …«
Adrià starrte seinen Freund bestürzt an.
»Was habe ich dir denn getan?«
»Was du mir getan hast? Du hast mir gedroht, die Geige an den Nagel zu hängen.«
»Ja. Endgültig. Aber das geht nicht gegen dich, ich gebe einfach auf.«
Es war nämlich so, dass sich nach dem Prokofjew eine Verwandlung mit Heifetz vollzogen hatte, er hatte plötzlich groß und kraftvoll gewirkt, stolz, möchte ich fast sagen, als er drei jüdische Tänze spielte, und dabei schien er noch größer zu werden und seine Ausstrahlung noch kraftvoller. Nach einem Augenblick der Sammlung hatte er uns dann noch mit der Chaconne aus der Partita in d-Moll beschenkt, die ich, abgesehen von unseren eigenen Versuchen, nur auf einer Schellackplatte von Ysaÿe gehört hatte. Es waren Minuten der Vollkommenheit. Ich habe viele Konzerte besucht. Doch dieses wurde für mich zum Initiationskonzert, das mir das Tor zur Schönheit öffnete und die Tür zur Geige verschloss, womit meine kurze Musikerkarriere beendet war.
»Du bist ein saublöder Hund«, befand Bernat, der sich demachten Kurs allein ausgesetzt sah, ohne mich in der Klasse unter sich zu wissen. Ganz allein vor Maestro Massià. »Ein saublöder Hund.«
»Nicht, wenn ich lerne, glücklich zu sein. Ich habe eine Erleuchtung gehabt: Schluss mit der Quälerei, ab jetzt werde ich die Musik genießen, die mir von wahren Könnern geboten wird.«
»Ein saublöder Hund und ein Feigling obendrein.«
»Ja. Mag sein. Aber jetzt werde ich mich ohne diesen zusätzlichen Druck meinem Studium widmen können.«
Die Fußgänger, die sich auf dem Carrer de les Jonqueres die kalte Luft um die Nase wehen ließen, wurden auf unserem Heimweg Zeugen des ersten der drei Wutausbrüche, die ich bei meinem Freund Bernat erlebt habe. Es war fürchterlich. Er fing an zu brüllen, Deutsch, Englisch, Katalanisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Griechisch, Latein, und zählte an den Fingern mit. Du bist neunzehn und kannst in einer, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht Sprachen lesen, und da hast du Angst vor dem achten Geigenkurs, du Dämlack? Wenn ich deinen Grips hätte, zum Teufel noch mal!
Lautlos begannen Schneeflocken zu fallen. Ich hatte noch nie erlebt, dass es in Barcelona geschneit hätte. Noch nie hatte ich Bernat so außer sich erlebt. Noch nie so hilflos. Ich weiß nicht, ob es seinetwegen oder meinetwegen schneite.
»Schau mal«, sagte ich.
»Der Schnee geht mir am Arsch vorbei. Du begehst einen Irrtum.«
»Du hast Angst vor Massià, wenn ich nicht dabei bin.«
»Ja. Na und?«
»Du hast das Zeug zum Geiger. Ich nicht.«
Bernat senkte die Stimme und sagte, glaub das
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