Das Schweigen des Sammlers
Lyrik!«
»Eh?«
Bernat wedelte mit dem Buch.
»Du liest Gedichte?«
»Schon immer.«
»Also, ich nicht.«
»Das merkt man.«
Bernat lachte auf, denn es war unmöglich, dem kranken Adrià böse zu sein. Und dann sagte er noch einmal, mehr kann ich nicht tun, schneller komme ich mit deinem Manuskript nicht voran.
»Schon gut …«
»Soll ich es lieber einem Profi geben?«
»Nein!« Jetzt kam wieder Leben in seine Gesten, seine Miene und seine Hautfarbe: »Auf gar keinen Fall! Das kann nur jemand aus Freundschaft tun. Und ich will nicht … Was weiß ich … Es ist sehr persönlich und … Wenn es erst einmal abgetippt ist, will ich es vielleicht lieber gar nicht veröffentlichen.«
»Hast du nicht gesagt, Bauçà sollte es bekommen?«
»Darüber reden wir, wenn es so weit ist.«
Es entstand eine Pause. Irgendwo in der Wohnung kramte die Dingsbums in Schubladen oder machte anderweitig Lärm. Wahrscheinlich war sie in der Küche.
»Plàcida, mach nicht so einen Krach! Plàcida, so heißt das Mädchen«, sagte er befriedigt: »Siehst du? Die können sagen, was sie wollen, mein Gedächtnis funktioniert noch einwandfrei.«
»Übrigens«, sagte Bernat, dem etwas eingefallen war, »die Rückseite deines Manuskripts, das, was du mit schwarzer Tinte geschrieben hast, weißt du?, das ist auch sehr interessant.«
Adrià überlegte einen Moment.
»Was steht da?«, fragte er leicht beunruhigt.
»Gedanken über das Böse. Nun ja, eine historische Studie des Bösen, würde ich sagen. Du hast es überschrieben mit ›Die Frage des Bösen‹.«
»Ach das! Das hatte ich völlig vergessen. Nein, das ist … ich weiß nicht, es ist so … seelenlos.«
»Aber nein. Ich denke, du solltest es veröffentlichen. Wenn du willst, schreibe ich es dir auch ab.«
»Tu dir das nicht an. Es ist bloß der Beweis, dass ich nicht zum Denker tauge.« Ein paar endlose Sekunden lang blieb er stumm. »Ich konnte nicht einmal die Hälfte von dem ausdrücken, was ich im Kopf hatte.«
Er griff nach dem Gedichtband. Unschlüssig klappte er ihn auf und zu. Dann legte er ihn wieder auf den Tisch und sagte, deshalb habe ich die Rückseite beschrieben; um es auszulöschen.
»Warum hast du es nicht weggeworfen?«
»Ich werfe nie ein Blatt Papier weg.«
Und über dem Zimmer und den beiden Freunden schwebte träge und lange die Stille eines Sonntagnachmittags.
17
Das Abitur hinter sich zu haben und die Schule verlassen zu können war eine Erleichterung. Bernat hatte seinen Abschluss ein Jahr zuvor gemacht und widmete sich mit Leib und Seele der Geige, auch wenn er sich der Form halber für Geisteswissenschaften eingeschrieben hatte. Als Adrià an die Universität kam, dachte er, ab jetzt würde alles leichter. Doch fand er viele Klippen und Dornengestrüpp. Und eine gewisse Laxheit unter den Studenten, die Angst vor Vergil hatten und bei Ovid in Panik gerieten. Und die Polizei im Senat. Und in den Hörsälen die Revolution. Eine Zeitlang war ich mit einem gewissen Gensana befreundet, der sich sehr für Literatur interessierte und vollkommen baff war, als ich auf seine Frage, womit ich mich denn später einmal beschäftigen wollte, antwortete, mit Ideengeschichte.
»Na hör mal, Ardèvol, niemand sagt, dass er Ideenhistoriker werden will.«
»Ich schon.«
»Das höre ich zum ersten Mal. Menschenskind. Ideengeschichte.« Er sah mich misstrauisch an. »Du willst mich auf den Arm nehmen, stimmt’s?«
»Nein, ich will alles wissen. Was man heute weiß und was man früher wusste. Und wie es kam, dass man es wusste oder warum man es noch nicht wusste. Verstehst du?«
»Nein.«
»Und du? Was willst du werden?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Gensana. Er wedelte mit der Hand vor seiner Stirn herum. »Ich habe eine Menge Hirngespinste. Aber irgendetwas werde ich bestimmt machen.«
Drei hübsche fröhliche Mädchen gingen auf ihrem Weg zum Griechischunterricht an ihnen vorbei. Adrià schaute auf die Uhr und winkte Gensana, der immer noch grübelte, was es mit dem Ideenhistoriker auf sich haben mochte, zumAbschied zu. Dann folgte ich den drei hübschen fröhlichen Mädchen. Bevor ich den Hörsaal betrat, sah ich mich nach ihm um. Gensana war immer noch besorgt um die Zukunft Ardèvols. Und ein paar Monate später, an einem eiskalten Nachmittag, fragte mich Bernat, der schon im achten Geigenkurs war, ob ich ihn zu einem Konzert von Jascha Heifetz im Palau de la Música begleiten wolle. Es sei eine einmalige Gelegenheit, und Maestro Massià
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