Das Schweigen
Zeit haben, nachzudenken.
»Ja, dann ...«, sagte der Archivar, als sich die Tür des
Aufzuges in der ersten Etage öffnete.
»Danke für die Hilfe«, sagte Ketola.
»Gerne«, sagte der Archivar, verabschiedete sich noch
mit der Andeutung eines unbeholfenen Winkens und
kehrte an seinen Arbeitsplatz zurück, während Ketola
und Joentaa in den Dritten fuhren.
Ketola setzte sich an seinen Schreibtisch, betrachtete
wieder abwechselnd das klare Blau auf seinem Bild-
schirm, das seiner Einschätzung nach jeder anderen Art
von Hintergrundbild vorzuziehen war, und die von
Schnee bedeckte Fensterscheibe. Kimmo saß ihm ge-
genüber und schwieg beharrlich, vermutlich aus Rück-
sicht oder weil er intensiv darüber nachdachte, was zum
Teufel mit ihm, Ketola, los war.
»Heute so gesprächig?« fragte Ketola, und sicher war,
dass er sich an keinem seiner Arbeitstage so entspannt
und zu Scherzen aufgelegt gefühlt hatte wie an diesem,
seinem letzten.
»Mir fiel auf, dass du die Frage nach dem roten Auto
nicht beantwortet hattest, deswegen dachte ich, dass du
vielleicht über die Sache nicht reden möchtest.«
Natürlich. Schön den Finger in die Wunde. Und da-
bei immer rücksichtsvoll. Er würde Kimmo vermissen.
»Wir haben den Wagen nie gefunden. Ein Zeuge
hatte ihn gesehen, ein kleiner Junge. Damals natürlich,
der wird inzwischen natürlich auch... in den Vierzigern
sein ... witzig irgendwie. Aber die ganze Sache hat ei-
gentlich keine Bedeutung ... ich weiß auch nicht, was
das soll, ich habe seit Jahrzehnten nicht an dieses Mäd-
chen gedacht ... und an die Mutter ...«
»Die Mutter des ermordeten Mädchens?«
»Ja, ja ... das war ... ein besonderes Erlebnis, könnte
man wohl sagen ... der Frau diese Nachricht zu über-
bringen, ich hatte ja erst ein paar Monate vorher ange-
fangen, hier zu arbeiten.«
Kimmo nickte, und Ketola winkte ab, um das Ge-
spräch zu beenden, er wollte nicht zum guten Schluss
noch redselig werden.
»Weißt du eigentlich, wie das hier heute so ablaufen
soll?« sagte er stattdessen.
Kimmo sah ihn fragend an.
»Ich meine, die Verabschiedung. Ist ja mein letzter
Tag heute, ha.« Langsam nahmen die Scherze überhand,
fand er, aber nur vielleicht.
»Wir haben ... ein paar Sachen vorbereitet«, sagte
Kimmo.
»Ach was.«
»Lass dich überraschen«, sagte Kimmo und lächelte
sogar.
Dann saßen sie wieder schweigend, Kimmo ordnete
Unterlagen, die Ketola nichts mehr angingen, Ketola sah
aus dem Fenster, nachdem er die Scheibe zwischenzeit-
lich vom Schnee befreit hatte. Er sah also dem Schnee
dabei zu, wie er von neuem die Scheibe zu bedecken be-
gann, und suchte ein letztes Mal nach dem entscheiden-
den Impuls, Kimmo auf den Tod seiner Frau anzuspre-
chen und ihn zu fragen, wie es ihm inzwischen gehe,
aber natürlich ließ er es bleiben, weil es ganz einfach lä-
cherlich gewesen wäre, und dann betrat ohnehin Tuo-
mas Heinonen den Raum und bat Kimmo, mal mitzu-
kommen, weil sie doch etwas vorzubereiten hätten.
Augen zwinkernd. Offensichtlich war jetzt auch Heino-
nen verrückt geworden.
Also saß er da, ohne etwas Spezielles zu denken,
nahm ab und an Telefonate entgegen, die sich als weni-
ger wichtig erwiesen, und gegen Mittag klopfte Nur-
meia an die Tür und trat ein, mit einer Kochmütze und
einer Schürze bekleidet, und ein riesiges Tablett balan-
cierend.
Und Nurmeia folgte die ganze Belegschaft, es waren
tatsächlich alle da, sogar Petri Grönholm war zu Ketolas
Abschied gekommen, obwohl Grönholm seit einigen
Tagen mit Grippe krank geschrieben war.
Es gab Würstchen in Tomatensoße, Ketolas Lieb-
lingsessen. Nurmeia tischte bestens gelaunt auf, Kari
Niemi, der Chef der Spurensicherung, schenkte Sekt
aus, ebenfalls bestens gelaunt, aber das war im Falle Nie-
mis ja nichts Besonderes, sein Nachfolger Sundström
brillierte mit ganz besonders sinnlosen Kalauern, und
die ganze Belegschaft sang den finnischen Schlager, den
Ketola in den vergangenen Jahren öfters mal – »immer,
mein Lieber, ständig«, insistierte Nurmeia – gesummt
haben musste, wenn er nachgedacht hatte oder den Ein-
druck erweckt hatte, nachzudenken.
Der Vortrag des Liedes war sehr gut, die Kollegen
hatten das offensichtlich einstudiert, und Ketola war
gerade dabei, sich zu fragen, wann sie geprobt haben
konnten, als Nurmeia zum guten Schluss seine mit
Spannung erwartete Rede zu halten begann, und anstatt
einzuschlafen, was er ja ursprünglich
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