Das Schweigen
vorgehabt hatte,
stand Ketola da und spürte, wie die Worte vor seinen
Augen Gestalt annahmen, wie sie anschließend ver-
schwammen und sich zu einem Gefühl verdichteten,
nämlich dem Gefühl, dass Nurmeia hier gerade eine
bestens vorbereitete, eine ihn von Herzen lobende und,
wenn er ganz ehrlich war, eine geradezu berührende
Rede hielt, aber das war nur ein Gefühl, denn als Nur-
meia schließlich den letzten Satz gesprochen hatte,
hätte Ketola kein einziges Wort mehr wiedergeben kön-
nen. Das einzige, was Ketola unter diesen Umständen
noch zu sagen hatte, war: »Danke.« Und als alle dastan-
den und auf Weiteres zu warten schienen, sagte er noch
einmal, etwas konkreter werdend: »Ich danke euch.«
Wenig später machte Ketola sich auf den Weg.
Kimmo, Niemi und Tuomas Heinonen waren losgefah-
ren, um den Tod einer älteren Frau zu untersuchen, die
am Fuße der Kellertreppe ihres Hauses gefunden wor-
den war. Ketola ging mit Grönholm, der in sein Kran-
kenbett zurückkehrte.
»Schön, dass du da warst«, sagte Ketola. Ihm war
schwindlig. Das Schneetreiben war unvermindert stark.
»War doch selbstverständlich«, sagte Petri Grön-
holm. Und als sie an Ketolas Wagen standen, sagte er
noch: »Wir gehen davon aus, dass du uns regelmäßig
besuchst.«
Ketola nickte. »Gute Besserung«, sagte er, stieg ein
und startete den Wagen. Ihm war wirklich schwindlig,
aber er hatte natürlich auch jede Menge Sekt getrunken,
der ihn regelrecht ein wenig berauscht hatte, was ver-
wunderlich war, da Wodka und Whiskey dazu längst
nicht mehr in der Lage waren.
Ketola fuhr einen beträchtlichen Umweg. Er konnte
sich zu seiner eigenen Überraschung noch genau an die
Strecke erinnern, eine kaum befahrene Strecke, auch an
diesem Tag, eine Strecke, die er sehr lange nicht mehr ge-
fahren war. An der Stelle, an der sie damals das Fahrrad
des Mädchens gefunden hatten, stand ein Kreuz. Es
stand dort seit etwa zweiunddreißig Jahren.
Während Ketola ausstieg und auf das Kreuz zuging,
versuchte er, sich an diesen Tag zu erinnern, ihn wieder
zu fassen zu kriegen, das Bild der Frau, in deren Augen
er etwas hatte erlöschen sehen und die dann einfach los-
gelaufen war, mit dem Kreuz, das wie vorbereitet, wie
ein Regenschirm in einer Nische des Garderoben-
schrankes gestanden hatte. Er und sein Vorgesetzter
waren hinter der Mutter des Mädchens hergelaufen, und
die Frau war nach einer Weile gerannt, bis sie genau an
diese Stelle gelangt war, kaum fünf Minuten entfernt von
dem Haus, in dem die Frau mit ihrer Tochter und ihrem
Ehemann gelebt hatte. Der Mann war selten in Er-
scheinung getreten. Ketola erinnerte sich in erster Linie
daran, dass er seine Frau einige Monate, nachdem sie
die Tochter gefunden hatten, verlassen hatte.
Das Kreuz war also immer noch da. Ketola entfernte
vorsichtig den Schnee und las den Namen, der auf dem
Kreuz stand: Pia Lehtinen. Genau, so hatte sie geheißen.
Im Wagen hatte er kurz darüber nachgedacht und ihm
war nur der Nachname eingefallen. Dabei war der Vor-
name ganz einfach und einprägsam und damals allge-
genwärtig gewesen. Erstaunlich, dass es ihm gelungen
war, ihn zu verdrängen. Pia Lehtinen, getötet 1974,
stand auf dem Kreuz.
Und fünf Minuten von hier, fünf Minuten entfernt
von der Stelle, an der sie damals das Fahrrad gefunden
hatten, wohnte die Mutter des Mädchens. Oder vielmehr
hatte sie dort gewohnt, denn vermutlich wohnte sie dort
nicht mehr, wie hätte diese Frau dort noch wohnen kön-
nen nach diesem ... aber Ketola erinnerte sich jetzt sogar, dass er mit ihr damals kurz darüber geredet hatte, in den
Monaten, in denen die Ermittlung noch in vollem
Gang gewesen und man von einem Ermittlungserfolg
ausgegangen war. Die Frau hatte angekündigt, keines-
wegs umziehen zu wollen, sondern dieses Haus frühes-
tens zu verlassen, wenn der Täter gefasst wäre. Was nie
passiert war, und deshalb lebte die Frau dort vielleicht
immer noch. Ketola erwog für einen Moment, die Frau
aufzusuchen, ihr zu sagen, dass dies der Tag seiner Ver-
abschiedung aus dem Dienst sei und er aus Gründen, die
er nicht kannte, heute ausgerechnet an sie und ihre
Tochter gedacht habe.
Er verwarf den Gedanken natürlich und ging statt-
dessen gleich zu seinem Wagen zurück. Falls die Frau
noch hier wohnte, wollte er nicht von ihr gesehen wer-
den.
Er fuhr nach Hause. Es war noch Nachmittag, aber
die Dunkelheit hatte eingesetzt. Der Schneefall
Weitere Kostenlose Bücher