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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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ist es«, sagte er und trat näher. Er stand eine
    Weile und spürte, wie er jedes Detail in sich aufzuneh-
    men versuchte. Er begriff noch nicht, warum er an diese
    Sache gedacht hatte. Warum er plötzlich unbedingt die-
    ses Modell hatte finden wollen, denn er hatte die Sache
    lange vergessen gehabt.
    »Das ist es«, sagte er noch einmal, inzwischen stand
    auch der junge Archivar bei ihnen. Sie betrachteten eine
    Weile schweigend das Modell, das ein gelbes Feld zeigte
    und eine Allee von Bäumen, die behutsam aufgeklebt
    worden war und einen grauen Fahrradweg von einer
    ebenfalls grauen, zweispurigen Straße abgrenzte. Das
    alles bestand aus Pappe und Plastik, sogar die Fahrbahn-
    begrenzungen waren eingezeichnet worden, und ob-
    wohl die Sonne fehlte, sah man dem Modell an, dass es
    einen Moment im Sommer festzuhalten versuchte. Im
    Feld aus Plastik lag ein Fahrrad aus Plastik, und am
    Straßenrand hielt ein rotes Auto. Das Modell war so
    detailliert gearbeitet, wie Ketola es in Erinnerung hatte.
    »Hm ... was ist denn das?« fragte der Archivar.
    »Ein Modell«, sagte Ketola, ohne den Blick zu heben.
    Ketola sah im Augenwinkel den jungen Mann vage
    nicken, Kimmo stand reglos.
    »Es ging um den Mord an einem Mädchen«, sagte
    Ketola. »Ich hatte gerade erst hier angefangen, als das
    passierte. Sie wurde in diesem Feld missbraucht und ge-
    tötet, in unmittelbarer Nähe ihres Elternhauses, von
    einem Täter, den wir nie gefasst haben.«
    Wieder nickte der junge Mann, Kimmo stand weiter
    reglos.
    Das Mädchen fehlte in dem Bild, sie hatten es erst
    später gefunden, wesentlich später, als das Mädchen
    keines mehr gewesen war.
    »Ich hatte das eigentlich vergessen, ich weiß nicht,
    warum ich ausgerechnet heute daran gedacht habe ...
    der Ermittlungsleiter wollte damals nach einigen Mona-
    ten, kurz nachdem wir das Mädchen endlich gefunden
    hatten, unbedingt dieses Modell anfertigen lassen, er
    meinte, wir müssten ein Bild gewinnen ... er wurde fast
    verrückt, weil nichts voran ging.«
    »Und die Sache wurde also nie aufgeklärt ...«, sagte
    der Archivar.
    Ketola nickte. »Der Ermittlungsleiter von damals ist
    inzwischen verstorben «, sagte er.
    »Was ist das für ein Auto?« fragte der Archivar und
    deutete auf den roten Kleinwagen.
    »Hmmm ...«, sagte Ketola. Der rote Kleinwagen, den
    sie nie gefunden hatten. Der wichtigste Gegenstand im
    Bild. Er stach sofort ins Auge. Inzwischen mochte dieser
    Kleinwagen ein Schrottklumpen sein oder noch weni-
    ger. Ganz sicher sogar.
    Vielleicht hatte es ihn ohnehin nie gegeben, denn der
    Zeuge, der den Wagen gesehen haben wollte, war ein
    kleiner Junge gewesen, der an diesem Tag vor dreiund-
    dreißig Jahren gegen Mittag auf dem parallel laufenden
    Radweg auf der anderen Seite der Straße gefahren war.
    Den roten Kleinwagen hatten sie nie gefunden. Das
    Mädchen dagegen hatten sie gefunden, sie hatten es aus
    einem See geborgen, einer der Taucher hatte sich unmit-
    telbar danach übergeben müssen, und Ketola hatte ge-
    meinsam mit einem Kollegen der Mutter des Mädchens
    die Nachricht überbracht.
    Er hatte nicht zum ersten Mal mit Angehörigen von
    Opfern gesprochen, aber zum ersten Mal hatte er gese-
    hen, wie in den Augen eines Menschen das Leben er-
    losch. Ketola hatte wie alle anderen damit gerechnet,
    dass sie das Mädchen irgendwann tot auffinden würden,
    auch die Mutter musste vom Tod ihrer Tochter ausge-
    gangen sein, aber in den Sekunden, in denen sein älterer,
    inzwischen verstorbener, Kollege die Worte aussprach,
    hatte Ketola das Leben dieser Frau enden sehen, auf eine
    Weise, die er niemandem hätte beschreiben können.
    »Ja ...«, sagte der Archivar, als sich Ketolas Schweigen
    in die Länge zog.
    »Ja ... ich möchte das mitnehmen«, sagte Ketola.
    »Packt ihr mit an?«
    Sie trugen das Modell durch den Keller zum Aufzug
    und eine Ebene höher am irritierten Pförtner vorbei ins
    Schneetreiben. Mit einiger Mühe verstauten sie es im
    Kofferraum von Ketolas Wagen. Während sie ins Ge-
    bäude zurückkehrten, fiel Ketola ein, dass er die Frage
    des Archivars nach dem roten Auto nicht beantwortet
    hatte, aber da der Archivar nicht mehr nachfragte, ließ
    Ketola die Frage unbeantwortet. Er hatte keine Lust
    mehr, darüber zu reden. Wichtig war, dass er das Modell
    aus Plastik und Pappe soeben in seinem Kofferraum ver-
    staut hatte, und darüber, warum er das getan hatte,
    würde er beizeiten, spätestens, wenn dieser Tag hier vor-
    bei war, ausreichend

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