Das Schweigen
müssen. Es war ohnehin
nicht viel gewesen, genau genommen ein Schuhkarton
voll mit Zeug, von dem er nicht behaupten konnte, dass
es tiefere Bedeutung besaß.
Arbeiten würde Ketola an diesem Tag natürlich auch
nicht. Die vergangenen Wochen hatte er großenteils
damit verbracht, seinen Nachfolger einzuführen, Paavo
Sundström, einen Kollegen aus Helsinki, den Ketola in-
zwischen für einen recht schwierigen, aber nicht un-
sympathischen Mann mit hoffentlich noch zu entde-
ckenden Fähigkeiten hielt. Wenn er wenigstens zu der
Sorte aufstrebender Karrieristen gehört hätte, aber
Sundström war nur zehn Jahre jünger als er und wies als
hervorstechende Eigenschaft einen mindestens merk-
würdigen, an Zynismus grenzenden Humor auf, der
selbst Ketola ab und an zu weit ging. Sundström war ein
großer, kantiger Mann mit Geheimratsecken, eine äu-
ßerlich beeindruckende Erscheinung, und Ketola ver-
mutete, dass das dann bereits von gewissen Banausen
als Führungsstärke ausgelegt wurde. Wobei Ketola zu-
geben musste, dass sich in den Ergebnissen, die Sund-
ström in diesen ersten Wochen lieferte, eine gewisse
Sorgfalt niederzuschlagen schien. Und es war ja nur
Ketolas erster, vielleicht ein wenig voreingenommener
Eindruck.
Ketola stand auf, sprang vielmehr unvermittelt auf, er
wusste gar nicht, warum. Um den Gedanken an Sund-
ström abzuschütteln oder weil er sich einfach ein wenig
rastlos fühlte. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, aus-
gerechnet an diesem Tag noch früher zu kommen als
ohnehin. Besser wäre gewesen, gegen Mittag oder sogar
erst mit Beginn von Nurmelas Rede den Raum zu betre-
ten. Er hätte eine Viertelstunde zugehört, auf Wieder-
sehen gesagt und sich auf die Socken gemacht.
Er überlegte, ob er genau das tun sollte, noch hatte er
alle Zeit, zurück nach Hause zu fahren, sich ins Bett zu
legen, denn er war jetzt wirklich müde, und wesentlich
später, wenn die Sache fast gelaufen war, würde er Nur-
mela für die Rede danken und in aller Kürze seinen
endgültigen Abschied nehmen.
Aber er entschied sich doch anders, und der Grund
dafür war ein Gedanke, der innerhalb eines Augenblicks
Gestalt annahm. Wesentlich später fragte sich Ketola
immer wieder mal, woher dieser fern liegende Gedanke
in diesem Moment gekommen war, es musste mit dem
Schuhkarton zusammenhängen und dem Zeug darin
oder mit der verschneiten dunklen Fensterscheibe, die
er im Moment des Gedankens anstarrte. Es war der Ge-
danke an etwas, das er lange vergessen hatte, und es war
der Moment, in dem Kimmo Joentaa das Büro betrat.
»Hallo«, hörte Ketola ihn sagen.
Er hob den Arm, betrachtete Kimmos fragendes Ge-
sicht und sagte: »Ich muss was suchen.«
Er setzte sich in Bewegung und ließ Kimmo stehen.
»Kann ich helfen?« rief Kimmo hinterher, und Ketola
wollte erst gar nicht antworten, aber dann wendete er
sich um und sagte: »Ja, vielleicht. Komm mit. Ich suche
was.«
Sie liefen schnell und schweigend die Treppen hi-
nunter, und Ketola murmelte mehr für sich als für
Kimmo: »War vor deiner Zeit, ist schon ewig her ...«
Er sah im Augenwinkel Kimmo nicken und be-
schleunigte seine Schritte, weil das jetzt etwas war, das
er hinter sich bringen wollte, da er nun schon mal daran
gedacht hatte, das war ja eine Sache, die seit... seit ziemlich genau dreißig Jahren zur Klärung anstand.
»Muss dreißig Jahre her sein ...« murmelte er. »Nein
... zweiunddreißig ... dreiunddreißig Jahre.«
Kimmo nickte.
»Wahnsinn ...«, sagte Ketola.
Das zentrale Archiv der Abteilung befand sich im
ersten Stock und erstreckte sich über drei miteinander
verbundene, ausgesprochen steril eingerichtete große
Räume. Am weißen Schreibtisch im ersten Raum saß
ein junger Mann, den Ketola noch nie gesehen hatte,
anscheinend eine Aushilfskraft.
»Wir suchen was«, sagte Ketola und schien darauf zu
warten, dass der Mann es ihnen überreichte.
»Ja ... was denn?« fragte der junge Archivar.
»Ein ... eine Art Modell.«
Der junge Mann nickte vage.
»Ein Modell. Der Fall liegt dreiunddreißig Jahre zu-
rück.«
Der junge Mann nickte.
»1974. Damals war Fußball-WM, deshalb muss es
1974 gewesen sein.«
»Ja ... das ist ja ... eine ganze Weile ...«, sagte der junge Mann.
»Sag mal, arbeitest du hier?« fragte Ketola.
»Ich ...«
»Ich meine, arbeitest du hier oder bist du nur zur
Aushilfe, also so, dass du vielleicht gar nicht weißt, wo
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