Das Schweigen
welche Akten sich in diesem Raum be-
fänden.
Es waren Dutzende von Ordnern, vergilbte gelbe
Ordner, die eine Fülle sehr sorgsam zusammengestellten
Materials enthielten. Joentaa hatte an Ketola gedacht,
daran, dass Ketola vor einer Ewigkeit diese Ordner
angelegt hatte.
Er hatte sich bei Päivi bedankt, die Ordner in einem
alten Karton in den dritten Stock gebracht und sich
einen ersten Überblick verschafft, bevor er mit Sund-
ström zum Fundort des Fahrrads gefahren war.
Der gemeldete Fundort stimmte mit dem damaligen
Tatort überein, und der Name auf dem Kreuz war tat-
sächlich der Name des Mädchens in den alten Akten.
Niemi und seine Kollegen hatten konzentriert gearbei-
tet. Joentaa hatte die Sonne im Nacken gespürt und die
Inschrift auf dem Kreuz gelesen. Pia Lehtinen. Getötet
1974.
»Guck dir das mal an, Kollege«, hatte Sundström ge-
sagt und auf Niemi gedeutet, der einige Meter entfernt
gestanden hatte. Sie waren vorsichtig nähergetreten,
und Niemi hatte auf die Schwelle zwischen dem erdigen
Boden und dem beginnenden Asphalt des Fahrradwegs
gedeutet, auf die feine Blutspur.
»Als sei jemand am Boden entlang geschleift worden.
Bis an den äußeren Rand des Fahrradweges, dann endet
die Spur«, hatte Niemi gesagt.
Kimmo hatte genickt und sich an die Rekonstruk-
tion des Hergangs in den Akten erinnert. Auch damals
war Blut gesichert worden, und die Rekonstruktion be-
sagte, dass der Täter Pia Lehtinen in seinen Wagen ge-
legt und anschließend in einem See versenkt habe. In
dem See, in dem die Tote dann Monate später gefunden
worden war und an dessen Ufer Sundström, Grönholm
und er jetzt standen, während Taucher den Grund nach
der Leiche eines noch namenlosen Mädchens absuch-
ten.
»Vielleicht gibt es das Mädchen nicht«, sagte
Grönholm gerade. »Vielleicht stellt sich das Ganze als
Scherz heraus.«
Kimmo nickte.
»Es wäre natürlich ein merkwürdiger Scherz«, fügte
Grönholm an. »Aber wir haben bisher nur ein Fahrrad,
das zufällig neben diesem Kreuz gefunden wurde, und
die Sporttasche.«
»Und Spuren eines Kampfes. Und eine Blutspur, jun-
ger Freund«, sagte Sundström.
»Tja«, sagte Grönholm.
Kimmo Joentaa hörte kaum zu. Er dachte darüber
nach, was es bedeuten würde, wenn die Parallelen zwi-
schen damals und heute hier enden würden. An diesem
See. Es gab Dutzende anderer Seen in der Umgebung.
Seen, die sie absuchen mussten. Wobei Grönholm letzt-
lich recht hatte, aber Joentaa hielt es gleichzeitig für absurd, an einen Scherz zu glauben. Was sollte das für ein
Scherz sein? Was war das Ganze überhaupt? War nach
dreiunddreißig Jahren derselbe Täter zurückgekehrt,
um am gleichen Ort das Gleiche zu tun? Wenn ja, was
war dann in diesen Mann gefahren?
»Ich ...«.beganner.
»Ja?« fragte Sundström.
»Ich verstehe die ganze Sache noch nicht«, sagte
Kimmo.
»Ha! Glückwunsch, Kollege!« sagte Sundström.
Joentaa wusste nicht, was Sundström damit sagen
wollte, und Sundström fuhr fort: »Was wir jetzt brau-
chen, Freunde, ist die verdammte Mädchenleiche.«
Grönholm und Joentaa tauschten einen kurzen
Blick.
»Wie wäre es alternativ mit dem unversehrten, ge-
sunden Mädchen?« fragte Grönholm, aber Sundström
schien gar nicht zu bemerken, dass Grönholm damit auf
seine Äußerung anspielte.
Die Taucher tauchten ab und wieder auf, nichts tat
sich. Sundström hatte in Abstimmung mit Nurmela
schon am Nachmittag die Medien informiert. Joentaa
hielt das für richtig. Auch die Entscheidung, sofort und
gezielt den See abzusuchen, in dem damals Pia Lehtinen
gefunden worden war, leuchtete ein, wenngleich Kim-
mo begann, sich zu fragen, ob es Sinn ergab, nach einer
Leiche in diesem See zu suchen, wenn die Möglichkeit
bestand, dass die Verschwundene sich noch lebend an
einem anderen Ort befand. Wenn es eine Verschwun-
dene gab.
Der Klingelton des Mobiltelefons riss ihn aus seinen
Gedanken. »Tuomas hier«, sagte Heinonen. »Ich habe
das Mädchen gefunden.«
Kimmo spürte ein Stechen im Magen. »Das ist ja ...«
»Nein, entschuldige, ich meine ... ich weiß vermut-
lich, wer sie ist«, sagte Heinonen.
»Ach so«, sagte Kimmo.
»Ein Kalevi Vehkasalo hat angerufen und erklärt, das
in den Nachrichten gezeigte Fahrrad gehöre seiner
Tochter, und seine Tochter sei heute nicht nach Hause
gekommen.«
»Und er war ganz sicher in Bezug auf das Fahrrad?«
»Ja, deshalb denke ich, es ist wichtig. Es war ja
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