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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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in
    Großaufnahme in den Nachrichten, und er ist sich voll-
    kommen sicher, dass es das Fahrrad seiner Tochter ist,
    er hat den grünen Aufkleber auf der Klingel erkannt
    und meint, das Fahrrad seiner Tochter habe genau so
    einen gehabt, da würde ein Kraftausdruck draufstehen,
    nämlich ›Fucking Bitch‹, und er habe diesen Aufkleber
    immer abmachen wollen, aber sie habe sich geweigert.
    Und auf dem Aufkleber steht ja tatsächlich ›Fucking
    Bitch‹.«
    »Wie bist du mit ihm verblieben?« fragte Joentaa.
    »Ich habe gesagt, dass wir gleich zu ihm kommen. Zu
    ihm und seiner Frau, sie sind beide zu Hause. Ich
    dachte, dass vielleicht Sundström das machen will.«
    »Ich rede mit ihm. Gib mir mal die Adresse.«
    »Sodankylänkatu 12. Das liegt in Hahnen, eine ganze
    Ecke vom Fundort des Fahrrads entfernt.«
    »Gut, danke. Bis später«, sagte Joentaa.
    Er sprach mit Sundström, der die Augen zusammen-
    kniff, wieder hin- und her zu wippen begann und sagte:
    »Jetzt kommt also Leben in die Bude.«

    4

    Ketola sah das Fahrrad im Feld neben dem Kreuz in
    den Spätnachrichten.
    Am frühen Abend war sein Sohn Tapani gekommen.
    Ohne Vorankündigung und überraschend, wie immer.
    Ketola hörte Wochen, manchmal Monate lang nichts
    von ihm, und dann stand Tapani in der Tür und
    lächelte und sah ihn an mit diesem Blick, hinter dem
    sich eine unergründliche, eine leere oder von was auch
    immer angefüllte Welt verbarg. Jedenfalls eine Welt, die
    Ketola nicht begriff.
    Tapani saß ihm gegenüber auf dem Sofa und erzählte
    von Dingen, die er erlebt hatte oder vielmehr erlebt
    haben wollte. Begegnungen mit Menschen, die es nicht
    gab. Nicht geben konnte. Obwohl Realität und Fantasie
    manchmal schwer auseinanderzuhalten waren.
    Etwa ein Jahr zuvor war Tapani in Nordfinnland fest-
    genommen worden, weil er mit einem DVD-Player ein-
    fach aus einem Laden marschiert war, offensichtlich in
    der Hoffnung, der Diebstahl sei so auffällig, dass nie-
    mand ihn bemerken würde. Das Verfahren war, auch
    auf Einwirken Ketolas, eingestellt worden, und Tapani
    hatte wieder einige Zeit in der Psychiatrie verbracht.
    Ketola hatte ihn jede Woche besucht, sie hatten in
    seinem Zimmer gesessen. Tapani hatte erzählt, Ketola
    hatte geschwiegen.
    So war es auch jetzt. Tapani erzählte von Männern,
    die in den Wald gingen und nie mehr herauskamen,
    und betonte, dass er, Tapani, sie gewarnt habe, dass
    aber niemand auf ihn höre, dass niemand ihn ernst
    nehme.
    »Ich nehme dich sehr ernst«, sagte Ketola.
    »Ja ... aber die anderen, meine ich, die anderen, die
    begreifen nichts. Ich mag Wasser«, sagte Tapani.
    Ketola nickte und holte eine Flasche Wasser und zwei
    Gläser. Tapani trank gierig, stellte das Glas ab und
    sagte, dass er sich überlegt habe, jetzt möglichst in den
    nächsten Tagen Flickflack lernen zu wollen.
    »Was?« fragte Ketola.
    »Flickflack. Wie beim Kunstturnen«, sagte Tapani.
    »Dann könnte ich mich sehr schnell fortbewegen, das
    wäre viel schneller, als zu laufen. Ich muss nur
    jemanden finden, der mir das beibringen kann.«
    Ketola goss Wasser in sein Glas und schenkte auch
    Tapani nach, und als er aufsah, glaubte er für einen
    Moment, ein Blitzen in Tapani Augen wahrzunehmen,
    und dann lachte Tapani, und Ketola lachte auch.
    »War nicht ganz ernst gemeint«, sagte Tapani.
    Das waren für Ketola die schönsten Momente, die
    Momente, in denen Tapani für Sekunden war wie frü-
    her. Was mit Tapani eigentlich passiert war, hatte bis-
    lang niemand hinreichend erklären können. Kein Arzt,
    kein Psychologe. Was diese Leute sagten, hätte sich Ke-
    tola auch selbst zusammenreimen können. Drogen. Of-
    fensichtlich eine wilde Mischung. Offensichtlich exzes-
    siver Konsum. Das wusste Ketola längst, und er wusste
    auch, dass sich so einfach keineswegs alles erklären ließ.
    Tapani hatte ihn und Oona etwa zehn Jahre zuvor,
    am Abend vor den Abiturfeierlichkeiten, davon in
    Kenntnis gesetzt, dass er die Prüfungen nur mit Hilfe
    von gewissen Mitteln bestanden hätte, dass er da wohl
    eine Anfälligkeit besitze und dass er ihnen das sage, weil er vorhabe, damit Schluss zu machen. Weil er das Ge-fühl habe, dass es ihm auf lange Sicht nicht guttun
    werde. Tapani hatte genau auf diesem Sofa gesessen und
    seinen Eltern ganz sachlich, aufreizend sachlich, die Si-
    tuation vergegenwärtigt. Ketola hatte ihn angeschrien,
    hatte ihm eine Ohrfeige verpasst und war am kommen-
    den Tag der Vergabe der Abiturzeugnisse

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