Das Schweigen
in
Großaufnahme in den Nachrichten, und er ist sich voll-
kommen sicher, dass es das Fahrrad seiner Tochter ist,
er hat den grünen Aufkleber auf der Klingel erkannt
und meint, das Fahrrad seiner Tochter habe genau so
einen gehabt, da würde ein Kraftausdruck draufstehen,
nämlich ›Fucking Bitch‹, und er habe diesen Aufkleber
immer abmachen wollen, aber sie habe sich geweigert.
Und auf dem Aufkleber steht ja tatsächlich ›Fucking
Bitch‹.«
»Wie bist du mit ihm verblieben?« fragte Joentaa.
»Ich habe gesagt, dass wir gleich zu ihm kommen. Zu
ihm und seiner Frau, sie sind beide zu Hause. Ich
dachte, dass vielleicht Sundström das machen will.«
»Ich rede mit ihm. Gib mir mal die Adresse.«
»Sodankylänkatu 12. Das liegt in Hahnen, eine ganze
Ecke vom Fundort des Fahrrads entfernt.«
»Gut, danke. Bis später«, sagte Joentaa.
Er sprach mit Sundström, der die Augen zusammen-
kniff, wieder hin- und her zu wippen begann und sagte:
»Jetzt kommt also Leben in die Bude.«
4
Ketola sah das Fahrrad im Feld neben dem Kreuz in
den Spätnachrichten.
Am frühen Abend war sein Sohn Tapani gekommen.
Ohne Vorankündigung und überraschend, wie immer.
Ketola hörte Wochen, manchmal Monate lang nichts
von ihm, und dann stand Tapani in der Tür und
lächelte und sah ihn an mit diesem Blick, hinter dem
sich eine unergründliche, eine leere oder von was auch
immer angefüllte Welt verbarg. Jedenfalls eine Welt, die
Ketola nicht begriff.
Tapani saß ihm gegenüber auf dem Sofa und erzählte
von Dingen, die er erlebt hatte oder vielmehr erlebt
haben wollte. Begegnungen mit Menschen, die es nicht
gab. Nicht geben konnte. Obwohl Realität und Fantasie
manchmal schwer auseinanderzuhalten waren.
Etwa ein Jahr zuvor war Tapani in Nordfinnland fest-
genommen worden, weil er mit einem DVD-Player ein-
fach aus einem Laden marschiert war, offensichtlich in
der Hoffnung, der Diebstahl sei so auffällig, dass nie-
mand ihn bemerken würde. Das Verfahren war, auch
auf Einwirken Ketolas, eingestellt worden, und Tapani
hatte wieder einige Zeit in der Psychiatrie verbracht.
Ketola hatte ihn jede Woche besucht, sie hatten in
seinem Zimmer gesessen. Tapani hatte erzählt, Ketola
hatte geschwiegen.
So war es auch jetzt. Tapani erzählte von Männern,
die in den Wald gingen und nie mehr herauskamen,
und betonte, dass er, Tapani, sie gewarnt habe, dass
aber niemand auf ihn höre, dass niemand ihn ernst
nehme.
»Ich nehme dich sehr ernst«, sagte Ketola.
»Ja ... aber die anderen, meine ich, die anderen, die
begreifen nichts. Ich mag Wasser«, sagte Tapani.
Ketola nickte und holte eine Flasche Wasser und zwei
Gläser. Tapani trank gierig, stellte das Glas ab und
sagte, dass er sich überlegt habe, jetzt möglichst in den
nächsten Tagen Flickflack lernen zu wollen.
»Was?« fragte Ketola.
»Flickflack. Wie beim Kunstturnen«, sagte Tapani.
»Dann könnte ich mich sehr schnell fortbewegen, das
wäre viel schneller, als zu laufen. Ich muss nur
jemanden finden, der mir das beibringen kann.«
Ketola goss Wasser in sein Glas und schenkte auch
Tapani nach, und als er aufsah, glaubte er für einen
Moment, ein Blitzen in Tapani Augen wahrzunehmen,
und dann lachte Tapani, und Ketola lachte auch.
»War nicht ganz ernst gemeint«, sagte Tapani.
Das waren für Ketola die schönsten Momente, die
Momente, in denen Tapani für Sekunden war wie frü-
her. Was mit Tapani eigentlich passiert war, hatte bis-
lang niemand hinreichend erklären können. Kein Arzt,
kein Psychologe. Was diese Leute sagten, hätte sich Ke-
tola auch selbst zusammenreimen können. Drogen. Of-
fensichtlich eine wilde Mischung. Offensichtlich exzes-
siver Konsum. Das wusste Ketola längst, und er wusste
auch, dass sich so einfach keineswegs alles erklären ließ.
Tapani hatte ihn und Oona etwa zehn Jahre zuvor,
am Abend vor den Abiturfeierlichkeiten, davon in
Kenntnis gesetzt, dass er die Prüfungen nur mit Hilfe
von gewissen Mitteln bestanden hätte, dass er da wohl
eine Anfälligkeit besitze und dass er ihnen das sage, weil er vorhabe, damit Schluss zu machen. Weil er das Ge-fühl habe, dass es ihm auf lange Sicht nicht guttun
werde. Tapani hatte genau auf diesem Sofa gesessen und
seinen Eltern ganz sachlich, aufreizend sachlich, die Si-
tuation vergegenwärtigt. Ketola hatte ihn angeschrien,
hatte ihm eine Ohrfeige verpasst und war am kommen-
den Tag der Vergabe der Abiturzeugnisse
Weitere Kostenlose Bücher