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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Mutmaßungen anzustellen.
    »Schenkst du mir ein Fahrrad zum Geburtstag?« fragte
    Tapani.
    »Was ... was ist...«, sagte Ketola.
    »Ob du mir ein Fahrrad schenkst?«
    »Ja, ja ...«, sagte Ketola.
    »Also, versprochen«, sagte Tapani.
    »Nein ... ja ...«, sagte Ketola, ohne den Blick vom
    Bildschirm zu nehmen. Inzwischen lief eine andere
    Nachricht aus einer anderen Welt. Bald daraufkam das
    Wetter, anschließend Sport. Ketola sah sich das alles an,
    ohne etwas zu sehen, und auch was Tapani sagte ver-
    hallte im Nichts. Im Fernsehen begann ein Spielfilm
    mit Alain Delon.
    »Den mag ich«, sagte Tapani. »Den Film mag ich,
    aber die Sache mit dem Fahrrad ...«
    »Hm? Ja, ja ... zum Geburtstag ... lass uns das ein
    anderes Mal...«
    »Das Fahrrad, das sie in dem Feld in Naantali gefun-
    den haben.«
    »Ja ...«sagte Ketola und richtete sich auf.
    »Was mir auffiel«, sagte Tapani. »Das Mädchen, das
    sie eingeblendet hatten, dieses Foto ...«
    »Ja?« fragte Ketola. Pia Lehtinen, dachte er ... gerade
    hatten sie das Foto von Pia Lehtinen im Fernsehen ge-
    zeigt, sein Foto, das Foto, das ihm damals die Mutter
    des Mädchens gegeben hatte ...
    »Wenn sie damals dreizehn Jahre alt war, wäre sie
    heute sechsundvierzig Jahre alt gewesen«, sagte Tapani.
    »Verstehst du, was ich meine?«
    »Was?« sagte Ketola.
    »Sie wäre heute eine alte Frau«, sagte Tapani.
    »Ich bin über sechzig«, sagte Ketola mechanisch.
    »Du weißt doch, was ich meine, dieses Mädchen
    wäre heute alt, älter als ich«, sagte Tapani, und Ketola
    sah Tapani an, seinen Sohn, der aussah wie ein Kind,
    und er fragte sich, was zum Teufel hier passierte, und
    spürte in diesem Moment, dass etwas nicht näher zu
    Bestimmendes in seinen Körper eindrang und ihn zum
    Lachen brachte. Er lachte, erst leise glucksend, dann laut und schreiend. Er konnte nicht mehr aufhören, und
    Tapani, das war besonders lustig, fragte allen Ernstes, ob er, Ketola, verrückt geworden sei, bevor er schließlich
    irgendwann einstimmte.
    Sie hatten lange nicht so intensiv und herzhaft ge-
    meinsam gelacht, das musste Jahrzehnte her sein, wenn
    sie überhaupt jemals auf diese Weise miteinander ge-
    lacht hatten. Sie lachten, bis Tapani abrupt aufstand
    und sagte, er müsse jetzt gehen, weil er noch ein
    wichtiges Treffen habe, über das er Ketola leider nichts
    Näheres sagen könne.
    Ketola nickte. Natürlich, dachte er, selbstverständlich.
    Er begleitete Tapani bis zur Haustür, umarmte ihn kurz
    und wartete, bis sein Sohn mit federnden, zuversicht-
    lichen Schritten in der Seitenstraße verschwunden war.
    Ketola ging langsam zurück ins Haus, zurück ins
    Wohnzimmer. Tapani war guter Laune gewesen. Mehr-
    fach an diesem Abend hatte Ketola gespürt, wie sehr er
    seinen Sohn liebte. Er fühlte sich ausgelaugt und leer.
    Zum Geburtstag würde er Tapani also ein Fahrrad
    schenken. Ein richtig gutes, das ihn schnell voranbrin-
    gen würde, wohin auch immer, jedenfalls würde er
    dann nicht Flickflack lernen müssen.
    Er schüttelte den Kopf. Was für eine irre Idee, das mit
    dem Flickflack, in gewisser Weise großartig, dachte er.
    Der Fernseher lief noch, der französische Spielfilm,
    den Tapani mochte.
    Ketola schüttelte den Kopf, schüttelte unablässig den
    Kopf, stand ansonsten reglos und starrte den Fernseher
    an.

    5

    Als sie auf das große hellgrüne Holzhaus zugingen, sah
    Joentaa hinter einem der Fenster das Gesicht einer
    Frau, und noch bevor sie die letzten Meter zurückgelegt
    hatten, wurde die Tür geöffnet. Ein kräftig wirkender
    Mann kam ihnen entgegen, er begrüßte sie mit einem
    schwungvollen Handschlag und sprach eine Spur zu
    laut. »Kalevi Vehkasalo. Ich nehme an, wir hatten tele-
    foniert. Schön, dass Sie gleich kommen konnten.«
    Er will noch nicht wahrhaben, was passiert ist, dachte
    Joentaa.
    »Paavo Sundström. Das ist mein Kollege Kimmo
    Joentaa«, sagte Sundström, von einer Sekunde auf die
    andere streng sachlich. Eben im Wagen hatte er noch
    einen ehemaligen finnischen Grand-Prix-Song mitge-
    sungen und sich darüber amüsiert, dass er vor einigen
    Jahren, seiner Erinnerung nach, abgeschlagen den letz-
    ten Platz belegt hatte.
    »Kommen Sie doch rein«, sagte Vehkasalo und ging
    zielstrebig voran. Er führte sie ins Haus und in ein geräu-miges Wohnzimmer, an den Wänden hingen große,
    abstrakt gehaltene Gemälde in grellen Farben. Im Zen-
    trum des Raumes stand eine Frau. Der Fernseher lief
    ohne Ton, auf dem Glastisch lag eine Packung

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