Das Schweigen
Mutmaßungen anzustellen.
»Schenkst du mir ein Fahrrad zum Geburtstag?« fragte
Tapani.
»Was ... was ist...«, sagte Ketola.
»Ob du mir ein Fahrrad schenkst?«
»Ja, ja ...«, sagte Ketola.
»Also, versprochen«, sagte Tapani.
»Nein ... ja ...«, sagte Ketola, ohne den Blick vom
Bildschirm zu nehmen. Inzwischen lief eine andere
Nachricht aus einer anderen Welt. Bald daraufkam das
Wetter, anschließend Sport. Ketola sah sich das alles an,
ohne etwas zu sehen, und auch was Tapani sagte ver-
hallte im Nichts. Im Fernsehen begann ein Spielfilm
mit Alain Delon.
»Den mag ich«, sagte Tapani. »Den Film mag ich,
aber die Sache mit dem Fahrrad ...«
»Hm? Ja, ja ... zum Geburtstag ... lass uns das ein
anderes Mal...«
»Das Fahrrad, das sie in dem Feld in Naantali gefun-
den haben.«
»Ja ...«sagte Ketola und richtete sich auf.
»Was mir auffiel«, sagte Tapani. »Das Mädchen, das
sie eingeblendet hatten, dieses Foto ...«
»Ja?« fragte Ketola. Pia Lehtinen, dachte er ... gerade
hatten sie das Foto von Pia Lehtinen im Fernsehen ge-
zeigt, sein Foto, das Foto, das ihm damals die Mutter
des Mädchens gegeben hatte ...
»Wenn sie damals dreizehn Jahre alt war, wäre sie
heute sechsundvierzig Jahre alt gewesen«, sagte Tapani.
»Verstehst du, was ich meine?«
»Was?« sagte Ketola.
»Sie wäre heute eine alte Frau«, sagte Tapani.
»Ich bin über sechzig«, sagte Ketola mechanisch.
»Du weißt doch, was ich meine, dieses Mädchen
wäre heute alt, älter als ich«, sagte Tapani, und Ketola
sah Tapani an, seinen Sohn, der aussah wie ein Kind,
und er fragte sich, was zum Teufel hier passierte, und
spürte in diesem Moment, dass etwas nicht näher zu
Bestimmendes in seinen Körper eindrang und ihn zum
Lachen brachte. Er lachte, erst leise glucksend, dann laut und schreiend. Er konnte nicht mehr aufhören, und
Tapani, das war besonders lustig, fragte allen Ernstes, ob er, Ketola, verrückt geworden sei, bevor er schließlich
irgendwann einstimmte.
Sie hatten lange nicht so intensiv und herzhaft ge-
meinsam gelacht, das musste Jahrzehnte her sein, wenn
sie überhaupt jemals auf diese Weise miteinander ge-
lacht hatten. Sie lachten, bis Tapani abrupt aufstand
und sagte, er müsse jetzt gehen, weil er noch ein
wichtiges Treffen habe, über das er Ketola leider nichts
Näheres sagen könne.
Ketola nickte. Natürlich, dachte er, selbstverständlich.
Er begleitete Tapani bis zur Haustür, umarmte ihn kurz
und wartete, bis sein Sohn mit federnden, zuversicht-
lichen Schritten in der Seitenstraße verschwunden war.
Ketola ging langsam zurück ins Haus, zurück ins
Wohnzimmer. Tapani war guter Laune gewesen. Mehr-
fach an diesem Abend hatte Ketola gespürt, wie sehr er
seinen Sohn liebte. Er fühlte sich ausgelaugt und leer.
Zum Geburtstag würde er Tapani also ein Fahrrad
schenken. Ein richtig gutes, das ihn schnell voranbrin-
gen würde, wohin auch immer, jedenfalls würde er
dann nicht Flickflack lernen müssen.
Er schüttelte den Kopf. Was für eine irre Idee, das mit
dem Flickflack, in gewisser Weise großartig, dachte er.
Der Fernseher lief noch, der französische Spielfilm,
den Tapani mochte.
Ketola schüttelte den Kopf, schüttelte unablässig den
Kopf, stand ansonsten reglos und starrte den Fernseher
an.
5
Als sie auf das große hellgrüne Holzhaus zugingen, sah
Joentaa hinter einem der Fenster das Gesicht einer
Frau, und noch bevor sie die letzten Meter zurückgelegt
hatten, wurde die Tür geöffnet. Ein kräftig wirkender
Mann kam ihnen entgegen, er begrüßte sie mit einem
schwungvollen Handschlag und sprach eine Spur zu
laut. »Kalevi Vehkasalo. Ich nehme an, wir hatten tele-
foniert. Schön, dass Sie gleich kommen konnten.«
Er will noch nicht wahrhaben, was passiert ist, dachte
Joentaa.
»Paavo Sundström. Das ist mein Kollege Kimmo
Joentaa«, sagte Sundström, von einer Sekunde auf die
andere streng sachlich. Eben im Wagen hatte er noch
einen ehemaligen finnischen Grand-Prix-Song mitge-
sungen und sich darüber amüsiert, dass er vor einigen
Jahren, seiner Erinnerung nach, abgeschlagen den letz-
ten Platz belegt hatte.
»Kommen Sie doch rein«, sagte Vehkasalo und ging
zielstrebig voran. Er führte sie ins Haus und in ein geräu-miges Wohnzimmer, an den Wänden hingen große,
abstrakt gehaltene Gemälde in grellen Farben. Im Zen-
trum des Raumes stand eine Frau. Der Fernseher lief
ohne Ton, auf dem Glastisch lag eine Packung
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