Das Schweigen
Taschen-
tücher.
»Meine Frau Ruth«, sagte Vehkasalo.
Die Augen der Frau waren klein und gerötet, ihr Hän-
dedruck war kaum spürbar. Aber Joentaa hatte den Ein-
druck, dass allein das Erscheinen Sundströms in ihr
Hoffnung aufkeimen ließ. Der große, sportlich wirkende
Sundström mit seinen kantigen Zügen strahlte, ohne ein
Wort sagen zu müssen, eine gewisse Zuversicht aus.
»Wir wollen natürlich vor allem wissen, was eigent-
lich los ist«, sagte Vehkasalo. Er stand Sundström bezüg-
lich der äußeren Erscheinung in nichts nach. Ebenfalls
ein großer, dynamisch und effektiv wirkender Mann. Er
trug ein lässiges und gleichzeitig elegantes Jackett und
vermittelte Joentaa den Eindruck, mit jeder Bewegung,
jeder Geste und jedem Wort Kontrolle über das Gesche-
hen beanspruchen zu wollen. Was Joentaa einleuchtete,
da Vehkasalo genau diese Kontrolle in dem Moment, in
dem er die Nachrichten gesehen hatte, verloren haben
musste.
»Aber setzen wir uns doch erst mal, sagte Vehkasalo
und wartete, bis alle saßen, bevor er fortfuhr: »Also,
kurz und gut: Das im Fernsehen war Sinikkas Fahrrad.
Das ist sicher. Meine Frau macht sich natürlich Sorgen.
Sinikka ist immer mal wieder spät nach Hause gekom-
men, aber ... wir möchten, dass Sie uns sagen, was pas-
siert ist.«
»Ich verstehe ... ich verstehe Ihre Sorge ...«, begann
Sundström.
Vehkasalo ging dazwischen, seine Stimme hatte
plötzlich einen anderen Ton. »Nein. Entschuldigung,
aber lassen Sie uns gar nicht mit dieser Tour anfangen,
diese Tour mag ich gar nicht. Sagen Sie uns, was los ist.
Es ist doch einfach. Unsere Tochter ist nicht nach
Hause gekommen, und die Polizei hat ihr Fahrrad
gefunden ... was ist passiert?«
»Ich möchte zunächst ...«
»Hören Sie schwer?! Ich hätte gerne eine klare Ant-
wort auf meine Frage!« Vehkasalo schlug mit der
flachen Hand auf den Tisch, sprang auf, hielt kurz inne,
ging dann mit weiten Schritten zum Fernseher und
schaltete ihn aus.
»Kalevi ...«, flüsterte Ruth Vehkasalo.
»Ich habe hier Fotos«, sagte Sundström. »Ich möchte
zunächst, dass Sie mir sagen, ob das die Sporttasche
Ihrer Tochter ist, und ob das ihre Kleidung ist.«
Er reichte ein Foto Vehkasalo, der wieder an den
Tisch getreten war, das andere seiner Frau, die sofort
nickte. »Ja, ganz sicher, den Trainingsanzug hat sie vor
zwei Wochen zum Geburtstag bekommen. Ganz sicher,
Kalevi, das ist genau der Anzug, den ich ihr gekauft
habe ...«
Sie reichte das Foto ihrem Mann.
»Und es ist ihre Sporttasche. Jedenfalls besitzt sie so
eine Sporttasche. Und ein Fahrrad mit genau diesem
Aufkleber, aber das habe ich ja schon gesagt«, murmelte
Vehkasalo.
»Ich verstehe«, sagte Sundström. »Wir müssen in die-
sem Punkt natürlich ganz sichergehen. Morgen werden
wir Ihnen auch noch einmal das Fahrrad zeigen müssen,
aber ich vermute inzwischen, dass es tatsächlich das
Fahrrad Ihrer Tochter ist.«
»Streichen Sie die letzte Floskel«, unterbrach Vehka-
salo.
»Ich möchte, bevor wir weiter sprechen, etwas sehr
Wichtiges sagen: Ich möchte Ihnen sagen, dass wir alles
tun werden, um Ihre Tochter zu finden. Zum jetzigen
Zeitpunkt wissen wir nicht mehr als Sie. Das Ver-
schwinden Ihrer Tochter liegt wenige Stunden zurück,
und wir haben ja eben erst erfahren, dass es sich bei der
Verschwundenen aller Wahrscheinlichkeit nach um
Ihre Tochter handelt ...»
»Streichen Sie die letzte Floskel«, unterbrach Vehka-
salo wieder.
»Ich will damit sagen ...«
»Streichen Sie das mit der Wahrscheinlichkeit, es ist
Sinikka. Es handelt sich um unsere Tochter Sinikka.«
»Ich will damit sagen, dass wir am Anfang stehen. Ihre
Tochter ist verschwunden. Wir haben ihr Fahrrad
gefunden und ihre Sporttasche. Sie ist nicht nach Hause
gekommen. Wir sind dabei, den Fundort auszuwerten,
und haben gleichzeitig begonnen, nach ihr zu suchen.
Vieles spricht dafür, dass Ihre Tochter wohlbehalten zu-
rückkehren wird ...«
»Streichen Sie die ganzen Floskeln. Das Fahrrad lag
neben diesem Kreuz.« Vehkasalo sprach jetzt betont
ruhig und sachlich, als wolle er einen beliebigen Vor-
gang schildern. »Wir wissen ja alle, was mit dem Mäd-
chen damals passiert ist. Es war klar und deutlich in den
Nachrichten. Da wurde ein Mädchen vom Fahrrad ge-
zerrt und umgebracht. Das habe ich doch richtig ver-
standen. Wieso lag das Fahrrad unserer Tochter ausge-
rechnet neben dem Kreuz? Und wieso läuft das Ganze
in den
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