Das Schweigen
war
schwindlig.
»Papa, mir ist schlecht von dem Eis«, sagte Aku.
Er öffnete die Augen. Aku stand im Türrahmen.
»Ich...«
Er sah Aku in der Tür stehen. Er wollte aufstehen und
auf ihn zugehen, aber es ging nicht. Er spürte, dass
er seinen Sohn anstarrte, er sah Schmerz und etwas wie Angst in seinem Gesicht, er wollte etwas sagen, er
wollte ...
»Ist dir auch schlecht von dem Eis?« fragte Aku.
9. JUNI
I
Am Morgen fuhr Kimmo Joentaa zu Ketola. Er hatte
überlegt, sein Kommen anzukündigen, aber dann war
er einfach losgefahren. Er war noch nie bei Ketola
gewesen, aber die Adresse kannte er. Oravankatu 18.
Das Haus lag auf einer Anhöhe, in einer gepflegten,
ruhigen Wohngegend am anderen Ende von Turku. Der
Weg, der zum Haus führte, war sorgfältig geharkt, rechts
und links blühten Blumen. Kimmo war überrascht, ohne
zu wissen, was er eigentlich erwartet hatte.
Es dauerte eine Weile, bis Ketola öffnete. Er lächelte
Kimmo an, als hätte er seine Ankunft bereits erwartet.
»Hallo«, sagte er. »Komm doch rein.«
Er sah anders aus, auf eine Weise verändert, die
Kimmo nicht sofort einschätzen konnte. Er wirkte ruhig,
gleichzeitig aber auch angestrengt. In jedem Fall schien er genau so wenig geschlafen zu haben wie Kimmo selbst.
Kimmo roch ganz leicht die Alkoholfahne.
»Wochenende fällt aus, was?« sagte Ketola. »Setz dich
doch.«
»Danke ... du hast sicher ...« Kimmo hielt inne, als er
im Zentrum des Raumes auf dem Wohnzimmertisch
das Modell stehen sah. Das Feld, die Straße, die Allee,
das kleine Fahrrad, das knallrote Auto. Ketola hatte es
von den Rädern abgelöst und auf den Tisch gestellt. Es
sah wirklich aus wie ein Anbauteil einer Modelleisen-
bahn.
»Du hast sicher ...«, sagte Kimmo.
»Davon gehört, natürlich«, sagte Ketola. »Habe ich.
Ich habe die Nachrichten gesehen ... und war über-
rascht ... meine Sache, mein Fall von damals ...«
»Deshalb bin ich hier«, sagte Kimmo. »Ich habe
sofort an dich gedacht, an den Tag deiner Verabschie-
dung ...«
»An das Modell, das wir in der Rumpelkammer ge-
funden haben ... ich habe es gestern Nacht ein zweites
Mal aus dem Keller geholt, dieses Mal aus meinem eige-
nen.«
»Ja.« Kimmo sah das Modell auf dem Tisch an und
wusste nicht, was er sagen sollte.
»Wisst ihr denn schon Näheres?« fragte Ketola.
»Nein ... oder doch, wir wissen vermutlich, wer das
verschwundene Mädchen ist.«
»Es ist also tatsächlich jemand vermisst?!« Ketola hatte
sich aufgerichtet, Kimmo spürte die Erregung in seiner
Stimme.
»Ja, es sieht so aus ... ein Mädchen in etwa dem Alter,
in dem damals auch Pia Lehtinen war ... die Eltern
haben das Fahrrad und die Sporttasche ihrer Tochter in
den Nachrichten erkannt.«
Ketola starrte ihn an. »Verstehe ...«, murmelte er.
»Das ist...«Er begann, leise zu kichern. »Entschuldige...
das ist einfach ... irrsinnig ... entschuldige bitte.«
»Ich habe natürlich gleich an dich gedacht. Es war mir
wichtig zu hören, wie du es siehst, wie du es ... ein-
schätzt.«
»Sehr einfach!« sagte Ketola. Er sprach plötzlich klar
und stechend, so wie damals, als er noch Kimmos Vor-
gesetzter gewesen war. »Sehr einfach. Es ist derselbe. Er
ist ... aus irgendeinem Grund ... zurückgekehrt ... es ist sicher verrückt, aber er war auch schon vor dreiunddrei-
ßig Jahren verrückt, und jetzt hat er nach dreiunddreißig
Jahren wieder die Kontrolle verloren ... es ist so. Ich
weiß nicht, was es ausgelöst hat, aber ich bin ganz sicher, dass es so ist.«
»Dennoch kann ich nicht verstehen ...«
»Es geht nicht darum, es zu verstehen! Du kannst
diese Menschen nicht verstehen, Kimmo! Lass dich jetzt
nicht irre machen. Ich habe mich damals in die Irre
führen lassen, ich habe etwas falsch gemacht, ich weiß
bis heute nicht, was, aber du ... ihr ... ihr müsst es jetzt richtig machen, verstehst du ... es ist wirklich wichtig,
dass ihr nicht dieselben Fehler begeht, die wir damals
gemacht haben ...«
Kimmo nickte und wich Ketolas stechendem Blick
aus. Er verstand es. Natürlich. Er verstand auch Ketolas
Erregung. Er verstand, dass Ketola, einem jungen
Ketola, der Tod von Pia Lehtinen und das Scheitern der
Ermittlungen damals sehr nah gegangen war. Dass ihn
das Wissen um dieses Scheitern nie mehr ganz
losgelassen hatte.
Dennoch ...
»Dennoch erscheint mir der Gedanke an einen Nach-
ahmungstäter plausibler... oder...«, sagte er.
»Quatsch!« Ketola war
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