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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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dass Ville wirklich
    angestrengt aussah. Das ganze Wochenende hatte er
    versucht, seine Aufgabe zu erfüllen. Bis spät in die
    Nächte hinein. Gegen Windmühlen gekämpft. Nur um
    ihm am Montagmorgen wenigstens eine gute Nachricht
    überbringen zu können.
    Sie kannten sich schon seit vielen Jahren. Die Firma
    hatte Vehkasalo gegründet, aber Ville war sein erster
    Mitarbeiter gewesen und hatte viel zum Erfolg beigetra-
    gen. Danke, Ville, dachte er.
    Ville hob einen Daumen in die Höhe und schien ihm
    etwas zuzurufen.
    Vehkasalo öffnete die Glastür.
    »Polen ist jetzt auch am Netz«, sagte Ville.
    »Gut, gut«, sagte Kalevi Vehkasalo.
    Er schloss die Tür. Ließ die Jalousien herunter. Setzte
    sich an seinen Schreibtisch.
    Er ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Die
    Tischfläche war kühl. Er würde mit Ruth sprechen.
    Lange mit ihr sprechen. Dieses Schweigen musste ein
    Ende haben. Alles musste raus. Eine Minute, angefüllt
    mit allem. Und dann würde er begreifen, was passiert
    war. Er würde jetzt nach Hause gehen, sich von seinen
    Mitarbeitern verabschieden, nach Hause gehen und
    Ruth in den Arm nehmen. Er würde mit ihr reden.
    Ihren Arm berühren, ihre Schulter. Ihre Hand. Sie
    würden sprechen und am Ende alles begreifen. Und
    losfahren und Sinikka finden, wo auch immer sie war.
    Genau das würden sie machen.
    Sobald er die Kraft fand, den Kopf von dieser Tisch-
    platte zu heben.

    5

    Timo Korvensuo fuhr. Um die Stadt herum. Immer
    und immer wieder. In Bewegung bleiben. Im Strom der
    anderen. An Ampeln stehen. Mit zehn Fingern auf das
    Lenkrad trommeln, rastlos, in Eile, ein unbekanntes
    Ziel vor Augen.
    Einmal verwechselte er Rot mit Grün und musste
    einem Cabriolet ausweichen. Ich hatte doch Rot, du
    Arsch, murmelte er, bevor ihm nach Minuten der
    Fehler bewusst wurde.
    Irgendwann steuerte er den Wagen auf einen Park-
    platz und rief Marjatta an.
    Sie waren im Kino gewesen. Marjatta sagte, der Film
    sei zu brutal für einen Achtjährigen. Aku war bester
    Laune.
    Korvensuo spürte den Stoff seines Hemds auf der
    Haut. Kühl und feucht. Aku imitierte die Stimme einer
    Hexe, die in dem Film eine wichtige Rolle gespielt hatte.
    »Dir wird nichts geschehen«, sagte Aku mit dieser
    krächzenden, hohen Stimme. »Gaaarrrr niiichtsssss.«
    »Von der werde ich träumen«, sagte Marjatta, und
    Aku lachte.
    »Sag mal ...«, begann Timo Korvensuo.
    »Iiich maaag den kllleiiinen Akkkuuuu gerrrrn«,
    krächzte Aku.
    »Hast du was gesagt?« fragte Marjatta.
    »Nimm doch Aku mal das Telefon weg«, sagte Kor-
    vensuo.
    »Papa hat Angst vor Hexen«, sagte Aku.
    »Jetzt ist er beleidigt«, sagte Marjatta.
    »Tut mir leid ... gib ihn mir noch mal.«
    Aber Aku wollte nicht mehr, er wollte Pizza essen.
    »Was wolltest du gerade sagen?« fragte Marjatta.
    »Ich ... weiß ich nicht mehr. Nichts Besonderes
    wahrscheinlich ... war die Hexe in dem Film wirklich so
    schlimm?«
    »Nicht nur die Hexe, das war ein einziges Gruselka-
    binett. Mit Blutfontänen und allem Drum und Dran.«
    »Aha«, sagte Korvensuo.
    »Was ist denn das eigentlich für ein komischer Ter-
    min, den du da hast?« fragte Marjatta.
    »Wieso komisch?«
    »Weißt du denn jetzt, ob du morgen heimkommst?«
    »Ja ... spätestens übermorgen«, sagte Korvensuo. »Ich
    möchte mir noch ein Objekt ansehen, das der geplanten
    Siedlung entspricht ... also der, die in Helsinki gebaut
    werden soll. Verstehst du?«
    »Natürlich verstehe ich.«
    »Spätestens übermorgen bin ich da«, sagte Kor-
    vensuo.
    »Glaub bloossss nicchchchcht, dassss duuu ssssoo
    leichchchcht davooonkommrnssssssttt«, sagte Aku.
    »Duuu kleeiiiiines Bübbbchchchen.«
    »Ich rufe am Abend nochmal an«, sagte Korven-suo,
    und für einige Augenblicke fühlte sich alles normal an.
    Dann saß er lange in der Stille mit dem Gedanken,
    nach Hause zu fahren. Marjatta zu überraschen. Und
    die Kinder. Plötzlich in der Tür stehen. Akus Gesicht
    sehen, während er die Hexe imitiert. Marjatta atmen
    hören. Wach liegen. Schlafen. Träumen.
    Er beugte sich abrupt vor und startete den Wagen.
    Er fuhr zielstrebig, denn er kannte den Weg.

    6

    Sie saßen im Besprechungszimmer. In demselben Raum,
    in dem vor dreiunddreißig Jahren Ketola gesessen hatte.
    Mit dem Modell auf Rädern.
    »Ich glaube, wir haben was«, sagte Heinonen. Er
    sprach leise und zurückgenommen, wie immer, aber
    Joentaa spürte die Erregung in seiner Stimme.
    »Wir wissen aber nicht, ob es uns weiterbringt«,

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