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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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einziges Wort erinnern, nur an die
    Müdigkeit am Morgen und an die unbestimmte Angst,
    die er empfunden hatte, während er auf identischen
    Wegen durch einen immer gleichen Wald gelaufen war.
    Er fuhr ins Hotel. Er parkte den Wagen in der Tief-
    garage und fuhr mit dem Aufzug direkt in den fünften
    Stock. Er begegnete niemandem.
    Sein Zimmer war leer. Auf dem Tisch surrte das
    Notebook. Daneben lag die Hülle für die CD. Er zog
    seine Jacke aus und legte sie über den Stuhl. Die Uhr
    am Fernseher stand auf halb sechs.
    Das Bett war frisch bezogen und kalt. Er lag auf dem
    Rücken und dachte an das Frühstück. In einer Stunde
    würde er nach unten gehen und essen. Er hatte Hunger.
    Ausgesprochenen Hunger.
    Richtig Lust hatte er auf dieses wunderbare Früh-
    stück, frischer Joghurt mit Erdbeeren und Rührei mit
    Speck und Lachs mit Meerretich und ein starker, zuck-
    riger Kaffee. Höllischen Hunger hatte er, und in einer
    Stunde würde er ihn stillen dürfen.
    Sein linker Arm lag immer noch wie ein Fremdkör-
    per neben ihm. Er sah den Ziffern am Fernseher dabei
    zu, wie sie voranschritten, und zählte leise mit.
    Noch nie hatte er sich derart darauf gefreut zu essen.
    In einem der angrenzenden Zimmer hatte ein Mann
    einen außergewöhnlichen Hustenanfall. Für eine Weile
    verstummte der Mann, um dann umso heftiger fortzu-
    fahren. Timo Korvensuo konnte hören, wie sich der
    Schleim löste.
    Er zählte Minuten und spürte, dass etwas passierte.
    Etwas Wichtiges.
    Er wusste nicht, was es war, aber was auch immer, es
    war von Bedeutung, und es fühlte sich leicht an.

    2

    Joentaa erwachte und griff nach Sannas Hand, weil er
    glaubte, dass sie neben ihm lag. Für einige Sekunden
    war er irritiert und fragte sich, wohin sie so früh am
    Morgen gegangen sein konnte.
    Dann richtete er sich auf. Durch die Fensterwand flu-
    tete das Sonnenlicht. Der See war eine ruhige Fläche. Er
    lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Er war beim Stu-
    dium der Akten eingeschlafen, die verstreut auf dem
    Tisch und auf dem Boden lagen.
    Nachdem Ketola gegangen war, hatte er noch Stun-
    den lang geblättert und sich eingebildet, etwas Entschei-
    dendes entdecken zu können, wenn er nur aufmerksam
    genug lesen würde. Er hatte gegen die Müdigkeit ange-
    kämpft, hatte irgendwann begonnen, alle fünf Minuten
    eine neue Akte zur Hand zu nehmen in der Hoffnung,
    dass ihm gleich, jeden Moment, ein Schlüsselwort ins
    Auge stechen würde. Der Gedanke hatte ihn nicht los-
    gelassen. Der Gedanke, etwas Wichtiges gesehen und
    nicht begriffen zu haben. Vermutlich die Folge der Über-
    müdung und des merkwürdigen Mitternachtsgesprächs
    mit Ketola.
    Schließlich hatte er sich ganz auf die Liste konzen-
    triert, die Heinonen und Grönholm zusammengestellt
    hatten. Aus den fünfundfünfzig Namen waren bis zum
    Abend achtundvierzig geworden. Sieben weitere Ver-
    blichene, wie Petri Grönholm es formuliert hatte, und
    dementsprechend achtundvierzig lebende Männer, die
    gemeinsam hatten, von 1974 bis 1983 in Turku und
    Umgebung einen roten Kleinwagen besessen zu haben.
    Er betrachtete den eng bedruckten Zettel und fragte
    sich, wie man damit irgend etwas erreichen sollte. Ein
    dreiunddreißig Jahre zurückliegender Mord und ein vor
    vierundzwanzig Jahren verschwundenes Mädchen. Vage
    Hinweise auf rote Kleinwagen, aus denen Jahrzehnte
    später eine Liste mit Namen resultierte. Beliebige
    Namen auf einem Blatt Papier. Mehr war diese Liste
    nicht, aber noch in der Nacht hatte er plötzlich ganz
    sicher zu wissen geglaubt, dass die Liste eine Antwort
    erhielt. Er hatte die Namen, die Adressen, die Tele-
    fonnummern studiert, bis die Buchstaben begonnen
    hatten, vor seinen Augen zu tanzen. Und darüber war
    er offenbar eingeschlafen. Er konnte sich nicht erin-
    nern.
    Er duschte schnell und zog sich an. Während er in die Innenstadt fuhr, dachte er an den Moment am Morgen, in dem er geglaubt hatte, dass Sanna neben ihm lag
    und er nur die Hände ausstrecken musste, um sie zu be-
    rühren. Ein Moment, der vollkommene Leere und voll-
    kommene Klarheit hinterließ und den er früher, in den
    ersten Monaten nach Sannas Tod, häufig erlebt hatte.
    Manchmal war er morgens Minuten lang auf der Suche
    nach Sanna durch das Haus gelaufen, und Sannas Tod
    hatte er für den Traum gehalten, den er zuletzt geträumt
    hatte.
    Im Büro saß er vor dem Computer und betrachtete
    das Bild. Die rote Kirche vor dem Wasser, aufgenommen
    an einem diesigen Tag, der dem Tag der

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