Das Schweigen
einziges Wort erinnern, nur an die
Müdigkeit am Morgen und an die unbestimmte Angst,
die er empfunden hatte, während er auf identischen
Wegen durch einen immer gleichen Wald gelaufen war.
Er fuhr ins Hotel. Er parkte den Wagen in der Tief-
garage und fuhr mit dem Aufzug direkt in den fünften
Stock. Er begegnete niemandem.
Sein Zimmer war leer. Auf dem Tisch surrte das
Notebook. Daneben lag die Hülle für die CD. Er zog
seine Jacke aus und legte sie über den Stuhl. Die Uhr
am Fernseher stand auf halb sechs.
Das Bett war frisch bezogen und kalt. Er lag auf dem
Rücken und dachte an das Frühstück. In einer Stunde
würde er nach unten gehen und essen. Er hatte Hunger.
Ausgesprochenen Hunger.
Richtig Lust hatte er auf dieses wunderbare Früh-
stück, frischer Joghurt mit Erdbeeren und Rührei mit
Speck und Lachs mit Meerretich und ein starker, zuck-
riger Kaffee. Höllischen Hunger hatte er, und in einer
Stunde würde er ihn stillen dürfen.
Sein linker Arm lag immer noch wie ein Fremdkör-
per neben ihm. Er sah den Ziffern am Fernseher dabei
zu, wie sie voranschritten, und zählte leise mit.
Noch nie hatte er sich derart darauf gefreut zu essen.
In einem der angrenzenden Zimmer hatte ein Mann
einen außergewöhnlichen Hustenanfall. Für eine Weile
verstummte der Mann, um dann umso heftiger fortzu-
fahren. Timo Korvensuo konnte hören, wie sich der
Schleim löste.
Er zählte Minuten und spürte, dass etwas passierte.
Etwas Wichtiges.
Er wusste nicht, was es war, aber was auch immer, es
war von Bedeutung, und es fühlte sich leicht an.
2
Joentaa erwachte und griff nach Sannas Hand, weil er
glaubte, dass sie neben ihm lag. Für einige Sekunden
war er irritiert und fragte sich, wohin sie so früh am
Morgen gegangen sein konnte.
Dann richtete er sich auf. Durch die Fensterwand flu-
tete das Sonnenlicht. Der See war eine ruhige Fläche. Er
lag auf dem Sofa im Wohnzimmer. Er war beim Stu-
dium der Akten eingeschlafen, die verstreut auf dem
Tisch und auf dem Boden lagen.
Nachdem Ketola gegangen war, hatte er noch Stun-
den lang geblättert und sich eingebildet, etwas Entschei-
dendes entdecken zu können, wenn er nur aufmerksam
genug lesen würde. Er hatte gegen die Müdigkeit ange-
kämpft, hatte irgendwann begonnen, alle fünf Minuten
eine neue Akte zur Hand zu nehmen in der Hoffnung,
dass ihm gleich, jeden Moment, ein Schlüsselwort ins
Auge stechen würde. Der Gedanke hatte ihn nicht los-
gelassen. Der Gedanke, etwas Wichtiges gesehen und
nicht begriffen zu haben. Vermutlich die Folge der Über-
müdung und des merkwürdigen Mitternachtsgesprächs
mit Ketola.
Schließlich hatte er sich ganz auf die Liste konzen-
triert, die Heinonen und Grönholm zusammengestellt
hatten. Aus den fünfundfünfzig Namen waren bis zum
Abend achtundvierzig geworden. Sieben weitere Ver-
blichene, wie Petri Grönholm es formuliert hatte, und
dementsprechend achtundvierzig lebende Männer, die
gemeinsam hatten, von 1974 bis 1983 in Turku und
Umgebung einen roten Kleinwagen besessen zu haben.
Er betrachtete den eng bedruckten Zettel und fragte
sich, wie man damit irgend etwas erreichen sollte. Ein
dreiunddreißig Jahre zurückliegender Mord und ein vor
vierundzwanzig Jahren verschwundenes Mädchen. Vage
Hinweise auf rote Kleinwagen, aus denen Jahrzehnte
später eine Liste mit Namen resultierte. Beliebige
Namen auf einem Blatt Papier. Mehr war diese Liste
nicht, aber noch in der Nacht hatte er plötzlich ganz
sicher zu wissen geglaubt, dass die Liste eine Antwort
erhielt. Er hatte die Namen, die Adressen, die Tele-
fonnummern studiert, bis die Buchstaben begonnen
hatten, vor seinen Augen zu tanzen. Und darüber war
er offenbar eingeschlafen. Er konnte sich nicht erin-
nern.
Er duschte schnell und zog sich an. Während er in die Innenstadt fuhr, dachte er an den Moment am Morgen, in dem er geglaubt hatte, dass Sanna neben ihm lag
und er nur die Hände ausstrecken musste, um sie zu be-
rühren. Ein Moment, der vollkommene Leere und voll-
kommene Klarheit hinterließ und den er früher, in den
ersten Monaten nach Sannas Tod, häufig erlebt hatte.
Manchmal war er morgens Minuten lang auf der Suche
nach Sanna durch das Haus gelaufen, und Sannas Tod
hatte er für den Traum gehalten, den er zuletzt geträumt
hatte.
Im Büro saß er vor dem Computer und betrachtete
das Bild. Die rote Kirche vor dem Wasser, aufgenommen
an einem diesigen Tag, der dem Tag der
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