Das Schweigen
Beerdigung äh-
nelte. Ketola hatte die Augen zusammengekniffen, als er
es zum ersten Mal gesehen hatte, und Kimmo hatte für
einen Moment gedacht, etwas zu seiner Rechtfertigung
sagen zu müssen. Er hatte es sein lassen, denn es gab
nichts zu sagen. Er hatte das Bild eingescannt und auf
den Bildschirm gebracht, und währenddessen nicht eine
Sekunde an irgend etwas gedacht Er hatte dieses Bild
gewählt, weil es kein anderes Bild gab, das er hätte wäh-
len können. Das war die Antwort auf die unausgespro-
chene Frage in Ketolas Augen.
Er dachte an Ketola. Jahre lang war er mit einem
flauen Gefühl zur Arbeit gekommen, weil er wusste,
dass er Kraft brauchen würde, um Ketolas stechenden
Blicken auszuweichen. Er hatte immer Grönholm
bewundert, der Ketolas Wutausbrüche mit großer
Gelassenheit zu ertragen schien, und natürlich Kari
Niemi, der für Ketola selbst in den wahnsinnigsten
Phasen noch ein gewinnendes Lächeln bereitgehalten
hatte.
Ketolas Drehstuhl stand noch da. Niemand benutzte
ihn, niemand kam auf die Idee, ihn aus dem Raum zu
entfernen. Sundström hatte seinen eigenen Stuhl mitge-
bracht und ein eigenes Büro im angrenzenden Zimmer
bezogen, aus dem er in diesem Moment schwungvoll
heraustrat.
»Kimmo, schön, dass du da bist«, sagte er und wedelte
mit Zetteln in seinen Händen. »Ich möchte, dass wir
das bis heute Mittag abarbeiten. Besprechung um 14
Uhr«, sagte er.
Joentaa nahm die Liste und sah wieder die Namen,
die er schon die ganze Nacht über studiert hatte.
»Ja ...«,sagte er.
»Ich weiß, es ist vage. Mehr als vage, deshalb darf es
uns auch nicht zu viel Zeit kosten, aber ich möchte spä-
ter nicht feststellen müssen, dass der Täter tatsächlich
schon auf dieser Liste verzeichnet war.«
Joentaa nickte.
»Heinonen und Grönholm haben vorläufig achtund-
vierzig Namen herausgefiltert. Das macht zwölf für
jeden von uns. Ich habe eingekreist, wer welche Perso-
nen überprüft. Anrufen oder hinfahren, ist mir egal.
Hauptsache, um 14 Uhr können alle etwas dazu sagen.«
Joentaa nickte und überflog die Namen. Oraniemi,
Palolahti, Pärssinen, Peltonen, Seinäjoki, Sihvonen. San-
nas Eltern anrufen.
»Niemi hat durchgegeben, dass die Blutgruppe über-
einstimmt. Das Blut, das wir sichergestellt haben,
stammt demnach mit hoher Wahrscheinlichkeit von
Sinikka Vehkasalo.«
Kimmo nickte. Es war keine überraschende Infor-
mation. Er setzte sich aufrecht und betrachtete die
Namen, die Sundström ihm zugeteilt hatte. »Ich fange
gleich an«, sagte er.
»Wunderbar«, sagte Sundström. »Wäre ja gelacht,
wenn wir den Scherzkeks nicht finden.«
Joentaa sah ihn fragend an.
»Den Wichser. Das Arschloch. Den Täter«, präzisierte
Sundström. »Für mich Kaffee, für dich Tee?« fragte er.
»Gerne«, sagte Joentaa.
3
Timo Korvensuo saß im Frühstücksraum. Der Heiß-
hunger war vergangen und einem flauen Gefühl gewi-
chen. Aber er aß trotzdem. Cornflakes. Cornflakes hatte
er lange nicht gegessen. Kühle Milch.
Das kleine Mädchen rannte wieder und sah ihn mit
großen, neugierigen Augen an. Er schaufelte Cornflakes
in seinen geöffneten Mund und rollte mit den Augen.
Die Milch lief über sein Kinn in seinen Hemdkragen.
Das Mädchen lachte.
Dann fuhr er mit dem Aufzug nach oben, betrat sein
Zimmer und packte seine Sachen.
Die junge Frau an der Rezeption wünschte ihm eine
gute Heimfahrt.
In der Tiefgarage stand sein Wagen. Er verstaute die
Reisetasche und das Notebook im Kofferraum. Die
Maschine fraß sein Ticket, die Schranke wurde angeho-
ben, und während er fuhr, fragte er sich, wie das eigent-
lich funktionierte. Welcher Mechanismus wirksam war,
welche Verbindung zwischen der Eingabe des Parkti-
ckets und dem Anheben der Schranke bestand. Vermut-
lich war es ganz einfach. Ein einfacher Mechanismus.
Eine einfache, aber gute Idee. Vor dem Kreuz lagen
Blumensträuße. Er bog am Ende des Feldes nach rechts
ab und ließ den Wagen am Straßenrand ausrollen.
Er dachte an Aku. Wie Aku ihn angesehen hatte, in
der Nacht am See. Es war nicht lange her. Aku war
schlecht gewesen, weil er zu viel Eis gegessen hatte.
Oder vielleicht nicht zu viel, vielleicht hatte er zu schnell gegessen. Zu schnell das ganze Zeug in sich reingestopft.
Das war etwas, das Aku würde lernen müssen. Je länger
er darüber nachdachte, desto wichtiger erschien es ihm.
Er würde mit Marjatta darüber sprechen, sobald sich
die Gelegenheit
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