Das Schweigen
CD stammte von seinem Sohn
Tapani, der sie ihm vor einigen Jahren zum Geburtstag
geschenkt hatte.
Tapani hatte ihm die CD gegeben, ohne ein Cover
beizulegen, das Auskunft über die Herkunft der Musik
gab. Das war typisch für Tapani, Ketola hatte sich über
das Geschenk gefreut, aber es war typisch, dass kein
Cover beilag, und dafür, Tapani nach dem Komponisten
dieser Musik zu fragen, war es zu spät, zumindest vo-
raussichtlich, auch wenn er sich jetzt vornahm, es dem-
nächst mal zu versuchen.
Das Stück gefiel ihm, die Traurigkeit dieser Musik
war wirklich außergewöhnlich, sie war derart ausge-
prägt, dass sich Ketola beim Hören in den vergangenen
Wochen immer gleich ein wenig besser gefühlt hatte.
Er musste sich zwingen, die Augen offen zu halten,
und lachte zweimal innerhalb weniger Sekunden auf,
weil er kurz hintereinander zwei Gedanken hatte, die
ihn belustigten oder wenigstens zum Lachen brachten.
Dass es schade wäre, ausgerechnet am letzten Ar-
beitstag bei einem zu allem Überfluss selbstverschul-
deten Unfall ums Leben zu kommen. Und dass er viel-
leicht, wenn Nurmela nachher seine mit Spannung
erwartete Rede zu halten begann, endlich einschlafen
würde. Nurmela würde es ihm nicht übelnehmen kön-
nen ... an diesem Tag ...
Ketola kicherte noch eine Weile vor sich hin, und
dann begann dieses Lied, ihn traurig zu machen, er
schaltete den CD-Player aus.
Das Rauschen des Gebläses füllte den Raum. Es war
inzwischen heiß im Innern des Wagens, Ketola spürte
die Hitze und bildete sich ein, zum ersten Mal
unmittelbar den Unterschied wahrzunehmen zwischen
der Hitze im Wagen und dem kalten Dunkel jenseits
der Windschutzscheibe.
Ständig fielen ihm die Augen zu, es war nichts dage-
gen zu machen, aber er war ja gleich da, er stand schon
im zähen Verkehr in der Innenstadt, von dem er wusste,
dass er schlimmer aussah, als er war, seine Fahrt würde
nur noch wenige Minuten dauern.
Der Schnee vermengte sich mit Abgasen, gelben
Frontlichtern und roten Bremsleuchten zu einem eigen-
tümlichen Bild, von dem er den Eindruck hatte, es zum
ersten Mal zu sehen, zum ersten Mal auf diese Weise.
Was natürlich Unsinn war, und er begann, genau das zu
tun, was er unbedingt hatte unterlassen wollen, er be-
gann, das Besondere an diesem Wintertag zu suchen,
der in Wirklichkeit genau so war wie alle anderen.
Er bog schließlich links ab und fuhr auf der weniger
befahrenen, schmaleren Straße bis zu dem großen Ge-
bäude, das sein Arbeitsplatz war.
Wie seit Jahren ging sein Blick in den dritten Stock,
in Richtung des Fensters, hinter dem sich sein Büro be-
fand. Es brannte noch kein Licht, er würde heute der
Erste sein, was seine Richtigkeit hatte, denn er war
schließlich Jahrzehnte lang der erste gewesen.
Erst in den vergangenen zwei Jahren, seit Kimmo
Joentaa seine Frau verloren hatte, hatte recht häufig das
Licht im Büro schon gebrannt und Kimmo hatte am
Schreibtisch vor dem surrenden Computer gesessen, als
Ketola eingetreten war. Ketola war heute absichtlich
noch ein wenig früher gefahren als sonst, um diesen
kleinen, albernen Wettstreit zu gewinnen, er vermutete
allerdings oder war sich vielmehr sicher, dass Kimmo
diesen Wettstreit gar nicht als solchen wahrnahm, son-
dern einfach immer dann früh im Büro saß, wenn er es
zu Hause nicht aushielt.
Warum Kimmo häufig so früh im Büro saß, verstand
Ketola jedenfalls besser als seine eigenen Gründe. In sei-
nen ersten Dienstjahren war es sicher Ehrgeiz gewesen,
der Versuch, sich zu profilieren, was letztlich auch ge-
lungen war. Aber später hatte sich dieser Grund erüb-
rigt, denn Ketola hatte die angestrebte leitende Position
erhalten, und warum er dann immer noch Tag für Tag
als Erster hatte da sein müssen, wusste er nicht.
Wie auch immer ... heute würde Kimmo sicher darauf
achten, nicht zu früh zu kommen. Ja, wie er Kimmo
kannte, würde der heute besonders spät kommen, bloß
um Ketola an seinem letzten Arbeitstag den Raum zu
geben, im leeren Büro was auch immer zu tun, im
Zweifelsfall zur Ruhe zu kommen, in sich zu gehen.
Ketola kicherte leise, während er durch den stärker
werdenden Schneefall lief. Er mochte Kimmo, die Inte-
grität dieses Mannes oder wie immer man das nennen
wollte, war ein wenig penetrant, die Art, wie er alles so
verdammt ernst nahm ... aber er mochte ihn wirklich,
und er hatte zwei volle Jahre lang mit dem Gedanken
gespielt, mit Kimmo
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