Das Schweigen
Auf jeder
einzelnen Seite der Akten, nur die Tage und Monate vor
der Zahl variierten, und irgendwann wurde aus der 74
eine 75. Es besagt nichts, dachte er noch einmal, und
dann fiel ihm auf, dass der Ball nicht mehr gegen das
Garagentor schlug, und ein Junge stürzte ins Zimmer.
»Oh«, sagte er tonlos, als er Joentaas Blick begegnete.
»Hallo«, sagte Joentaa, bemüht freundlich und nor-
mal.
»Hallo«, entgegnete der Junge.
»Das ist Herr Joentaa«, sagte Marjatta Korvensuo.
Der Junge nickte und war schon wieder entspannt
und mit anderen Dingen beschäftigt, als er sich um-
drehte und im Flur verschwand.
Oben lachten die Mädchen.
Joentaa hörte Wasser rauschen, und wollte eine
Frage stellen, als er in Marjatta Korvensuos Gesicht
eine Veränderung wahrnahm. Plötzliche Aufmerksam-
keit.
»Aku!« rief sie.
»Was denn?!« rief Aku.
»Wo bist du denn?«
»Auf dem Klo, Mama!« sagte Aku genervt.
Eine kurze Pause trat ein, dann sagte sie leise zu
Joentaa: »Und wo ist Ihr Kollege?«
Einige Sekunden vergingen. Dann stand Joentaa auf
und trat in den Flur. Eine Treppe führte nach oben,
eine nach unten. So ähnlich wie im Haus der Vehkasalos.
Oben lachten die Mädchen. Er ging nach unten. Dort
unten war Sinikkas Zimmer. Im Haus der Vehkasalos.
Eine Waschmaschine lief. Der Kellerflur wurde domi-
niert von einer riesigen Bücherwand, die ihn an den
Garten draußen erinnerte. Die Bücher standen kreuz
und quer, aber gleichzeitig geordnet. Er hörte ein ver-
trautes Geräusch, das ihn immer an die rote Holzkirche
erinnerte. Das Surren eines Computers. Ketola saß im
Schatten. Nach vorne gebeugt, das Kinn auf die Hände
gestützt, betrachtete er den flackernden Bildschirm. Er
schien zur Ruhe gekommen zu sein. Joentaa blieb im
Türrahmen stehen.
»Das hier ist wohl Papas Arbeitszimmer«, sagte Ke-
tola.
Joentaa betrat den Raum, der penibel aufgeräumt war.
Anders als der Garten. Anders als die Bücherwand. Der
Raum schien aus einer Fülle exakter rechter Winkel zu
bestehen.
»Es war ganz einfach«, sagte Ketola. »Selbst für einen
Laien wie mich. Anscheinend ist Papas Arbeitszimmer
tabu für den Rest der Familie.«
Joentaa blieb hinter Ketola stehen.
»Wie wäre es mit einer Dia-Show?« sagte Ketola.
»Mein Sohn Tapani hat mir kürzlich beigebracht, dass es
so was gibt. Der ist zwar verrückt, aber mit Computern
ziemlich fit.«
Ketola klickte, und die Bilder begannen, vor Joentaas
Augen langsam Gestalt anzunehmen. Ganz langsam. In
schnellem Wechsel. Ketolas Stimme hörte er aus der
Ferne.
»Der Computer ist voll davon, das ist wirklich irre«,
sagte Ketola.
»Das ist eine Frechheit«, sagte Marjatta Korvensuo in
Joentaas Rücken. Er drehte sich um und sah sie in der
Tür stehen. Er wollte auf sie zugehen, aber seine Beine
gehorchten nicht, und sie kam zu schnell näher. Er
beugte sich über Ketola und versuchte, den Computer
auszuschalten.
»Fänger weg«, sagte Marjatta Korvensuo. »Das reicht
jetzt. Das ist eine Frechheit.«
Dann stand sie neben ihnen.
Ketola saß reglos und entspannt und hob nicht ein-
mal den Kopf, als habe er Marjatta Korvensuo gar nicht
bemerkt.
»Was ...«, sagte Marjatta Korvensuo.
»Schalte bitte den Computer aus«, sagte Joentaa, aber
Ketola rührte sich nicht.
»Was ist das?« fragte Marjatta Korvensuo.
Sie schwiegen lange.
Dann sagte Ketola plötzlich: »Wir müssen gehen.« Er
stoppte die Bilderfolge, fuhr den Computer herunter
und stand auf. »Dieses Gerät wird nicht angefasst«,
sagte er zu Marjatta Korvensuo. »Verstehen Sie?«
Sie reagierte nicht.
»Wir müssen gehen, Kimmo«, sagte Ketola noch ein-
mal, aber Kimmo konnte sich nicht aus der Erstarrung
lösen.
»Frau Korvensuo, wissen Sie, wo ihr Mann ist? Haben
Sie telefoniert? Hat er irgend etwas gesagt, das uns wei-
terhelfen könnte?« fragte Ketola.
»Er ist ... in Turku«, sagte sie, ohne den Blick vom
Bildschirm zu nehmen. »Das wissen Sie doch.«
»Genauer. Wo genau ist er?«
»Am See«, sagte sie.
»Am See?!« Ketolas Stimme überschlug sich.
»Er war an einem See. Ich weiß nicht, an welchem.«
»Ich schon«, sagte Ketola. »Komm jetzt, Kimmo!«
Ketola ging, Joentaa blieb neben Marjatta Korvensuo
stehen und folgte ihrem Blick auf den leeren Bildschirm.
»Kommst du jetzt, verdammt?!« rief Ketola von oben.
Joentaa lief. Dann wendete er sich um und kehrte zu
Marjatta Korvensuo zurück und sprach, ohne nachzu-
denken: »Ich möchte ...
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