Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
Vom Netzwerk:
Auf jeder
    einzelnen Seite der Akten, nur die Tage und Monate vor
    der Zahl variierten, und irgendwann wurde aus der 74
    eine 75. Es besagt nichts, dachte er noch einmal, und
    dann fiel ihm auf, dass der Ball nicht mehr gegen das
    Garagentor schlug, und ein Junge stürzte ins Zimmer.
    »Oh«, sagte er tonlos, als er Joentaas Blick begegnete.
    »Hallo«, sagte Joentaa, bemüht freundlich und nor-
    mal.
    »Hallo«, entgegnete der Junge.
    »Das ist Herr Joentaa«, sagte Marjatta Korvensuo.
    Der Junge nickte und war schon wieder entspannt
    und mit anderen Dingen beschäftigt, als er sich um-
    drehte und im Flur verschwand.
    Oben lachten die Mädchen.
    Joentaa hörte Wasser rauschen, und wollte eine
    Frage stellen, als er in Marjatta Korvensuos Gesicht
    eine Veränderung wahrnahm. Plötzliche Aufmerksam-
    keit.
    »Aku!« rief sie.
    »Was denn?!« rief Aku.
    »Wo bist du denn?«
    »Auf dem Klo, Mama!« sagte Aku genervt.
    Eine kurze Pause trat ein, dann sagte sie leise zu
    Joentaa: »Und wo ist Ihr Kollege?«
    Einige Sekunden vergingen. Dann stand Joentaa auf
    und trat in den Flur. Eine Treppe führte nach oben,
    eine nach unten. So ähnlich wie im Haus der Vehkasalos.
    Oben lachten die Mädchen. Er ging nach unten. Dort
    unten war Sinikkas Zimmer. Im Haus der Vehkasalos.
    Eine Waschmaschine lief. Der Kellerflur wurde domi-
    niert von einer riesigen Bücherwand, die ihn an den
    Garten draußen erinnerte. Die Bücher standen kreuz
    und quer, aber gleichzeitig geordnet. Er hörte ein ver-
    trautes Geräusch, das ihn immer an die rote Holzkirche
    erinnerte. Das Surren eines Computers. Ketola saß im
    Schatten. Nach vorne gebeugt, das Kinn auf die Hände
    gestützt, betrachtete er den flackernden Bildschirm. Er
    schien zur Ruhe gekommen zu sein. Joentaa blieb im
    Türrahmen stehen.
    »Das hier ist wohl Papas Arbeitszimmer«, sagte Ke-
    tola.
    Joentaa betrat den Raum, der penibel aufgeräumt war.
    Anders als der Garten. Anders als die Bücherwand. Der
    Raum schien aus einer Fülle exakter rechter Winkel zu
    bestehen.
    »Es war ganz einfach«, sagte Ketola. »Selbst für einen
    Laien wie mich. Anscheinend ist Papas Arbeitszimmer
    tabu für den Rest der Familie.«
    Joentaa blieb hinter Ketola stehen.
    »Wie wäre es mit einer Dia-Show?« sagte Ketola.
    »Mein Sohn Tapani hat mir kürzlich beigebracht, dass es
    so was gibt. Der ist zwar verrückt, aber mit Computern
    ziemlich fit.«
    Ketola klickte, und die Bilder begannen, vor Joentaas
    Augen langsam Gestalt anzunehmen. Ganz langsam. In
    schnellem Wechsel. Ketolas Stimme hörte er aus der
    Ferne.
    »Der Computer ist voll davon, das ist wirklich irre«,
    sagte Ketola.
    »Das ist eine Frechheit«, sagte Marjatta Korvensuo in
    Joentaas Rücken. Er drehte sich um und sah sie in der
    Tür stehen. Er wollte auf sie zugehen, aber seine Beine
    gehorchten nicht, und sie kam zu schnell näher. Er
    beugte sich über Ketola und versuchte, den Computer
    auszuschalten.
    »Fänger weg«, sagte Marjatta Korvensuo. »Das reicht
    jetzt. Das ist eine Frechheit.«
    Dann stand sie neben ihnen.
    Ketola saß reglos und entspannt und hob nicht ein-
    mal den Kopf, als habe er Marjatta Korvensuo gar nicht
    bemerkt.
    »Was ...«, sagte Marjatta Korvensuo.
    »Schalte bitte den Computer aus«, sagte Joentaa, aber
    Ketola rührte sich nicht.
    »Was ist das?« fragte Marjatta Korvensuo.
    Sie schwiegen lange.
    Dann sagte Ketola plötzlich: »Wir müssen gehen.« Er
    stoppte die Bilderfolge, fuhr den Computer herunter
    und stand auf. »Dieses Gerät wird nicht angefasst«,
    sagte er zu Marjatta Korvensuo. »Verstehen Sie?«
    Sie reagierte nicht.
    »Wir müssen gehen, Kimmo«, sagte Ketola noch ein-
    mal, aber Kimmo konnte sich nicht aus der Erstarrung
    lösen.
    »Frau Korvensuo, wissen Sie, wo ihr Mann ist? Haben
    Sie telefoniert? Hat er irgend etwas gesagt, das uns wei-
    terhelfen könnte?« fragte Ketola.
    »Er ist ... in Turku«, sagte sie, ohne den Blick vom
    Bildschirm zu nehmen. »Das wissen Sie doch.«
    »Genauer. Wo genau ist er?«
    »Am See«, sagte sie.
    »Am See?!« Ketolas Stimme überschlug sich.
    »Er war an einem See. Ich weiß nicht, an welchem.«
    »Ich schon«, sagte Ketola. »Komm jetzt, Kimmo!«
    Ketola ging, Joentaa blieb neben Marjatta Korvensuo
    stehen und folgte ihrem Blick auf den leeren Bildschirm.
    »Kommst du jetzt, verdammt?!« rief Ketola von oben.
    Joentaa lief. Dann wendete er sich um und kehrte zu
    Marjatta Korvensuo zurück und sprach, ohne nachzu-
    denken: »Ich möchte ...

Weitere Kostenlose Bücher