Das Schweigen
ausgesagt, dass Korvensuo den
ganzen Freitag über Termine in Helsinki wahrgenom-
men hat«, hatte Heinonen eingewendet.
»Ja, ja ... wir müssen das überprüfen«, hatte Sund-
ström gesagt und angefügt, dass er gleich morgen früh
nach Helsinki fahren werde. Und dass Kimmo ihn be-
gleiten solle.
Er dachte an Marjatta Korvensuo, die er also morgen
sehen würde. Und an den Jungen, Aku. Und an die Toch-
ter, Laura. Er würde also sehen, wie es ihnen ging. Einen
Eindruck gewinnen. Er würde dort sein. Er würde Mar-
jatta Korvensuo gegenüber sitzen. Genau wie heute
Nachmittag würden sie sich auch morgen wieder gegen-
über sitzen. Er würde die Gelegenheit haben, noch ein-
mal von vorn zu beginnen, noch einmal mit ihr zu spre-
chen. Aber worüber.
Er öffnete die Augen und sah die weite, ruhige Was-
serfläche. Die Mitternachtssonne schien blass, aber be-
harrlich. Irgendwo, in einem toten Winkel, wartete der
Gedanke an etwas, das er gesehen, aber nicht begriffen
hatte.
Er versuchte, sich dem Gedanken zu nähern, und sah
sich gemeinsam mit Ketola und Antti aus dem Archiv
durch dichtes Schneetreiben rennen.
Antti war inzwischen übernommen worden und
schien sich im Archiv bei Päivi Holmquist sehr wohl zu
fühlen. Kimmo gönnte es ihm von Herzen.
Päivi Holmquists Rumpelkammer.
Ketolas alte Akten.
Ketolas Handschrift. An dem Tag, an dem Pias Lei-
che gefunden worden war. Ketolas Hand hatte gezittert,
während er eine Notiz auf einen Zettel schrieb. Eine
Notiz in den alten Akten.
Kalevi Vehkasalo. Sinikkas Vater. Auch seine Hand
hatte gezittert, während er neben seiner Frau auf dem
Sofa gesessen und sie gebeten hatte, sie solle die Ruhe
bewahren.
Morgen würden Heinonen und Grönholm mit Si-
nikkas Eltern sprechen. Sie würden versuchen, eine Ver-
bindung herzustellen zwischen einem verstorbenen Im-
mobilienmakler und ihrer Tochter. Obwohl Korvensuo
nicht derjenige gewesen sein konnte, der Sinikka am
vergangenen Freitag in den Weg getreten war. Vermut-
lich nicht.
Er dachte an Sinikka. An ihr Gesicht auf dem Foto.
An die Nachricht, die Ruth Vehkasalo auf die Mailbox
gesprochen hatte. Immer dieselbe Nachricht. Sinikka
solle sich melden. Bitte. Am Ende hatte Sinikkas Mutter
geschrien und fast geweint und die Katastrophe in sich
gespürt, obwohl sie noch nicht gewusst hatte, dass
Sinikkas Fahrrad gefunden worden war.
Ruth Vehkasalos Nachricht hatte das Haus nicht
verlassen, denn das Handy hatte in Sinikkas Zimmer
gelegen. Warum eigentlich ... warum hatte Sinikka das
Mobiltelefon nicht mitgenommen, als sie zum Trai-
ning fuhr ... er dachte, dass er die Vehkasalos fragen
musste, ob ihre Tochter vergesslich gewesen sei, und
begann jetzt doch, in den Schlaf hinabzugleiten ...
in wenigen Stunden würde Sundström vor der Tür
stehen.
Sundström wollte zeitig losfahren und hatte vorge-
schlagen, Joentaa zu Hause abzuholen ... er wusste
nicht, wie spät es war, aber es konnten nur noch ein
paar Stunden sein, er hatte den Eindruck, dass die
Mitternachtssonne schon kaum merklich in die
Morgendämmerung überging ... aber er hatte das
Gefühl, nicht schlafen zu wollen ...
Er richtete sich ruckartig auf.
Er dachte an das Modell auf Rädern. Im Schneetrei-
ben. Und Monate später in Ketolas Wohnung. Auf dem
Tisch im Wohnzimmer. Ketola hatte gelacht ... ungläu-
big ... hatte es einfach nicht verstehen können, so war es ihm selbst auch gegangen, aber dennoch ... etwas, das er
gesehen hatte ... etwas ganz und gar Nebensächliches.
Einer der Ermittler hatte ein Gespräch geführt, eines
der weniger wichtigen ...
Er stand auf und lief zum Haus. Etwas, das er mit den
Augen gestreift hatte... eine Passage, die er nur überflo-
gen hatte, weil sie zu den weniger wichtigen zählte und
weil er zu müde gewesen war, um sich noch ausreichend
zu konzentrieren ... ein Gespräch, das kürzlich geführt
worden war ... er schloss die Tür auf und ging ins
Wohnzimmer, die Akten lagen ungeordnet und ver-
streut, er suchte eine Aussage über Sinikka, etwas, wo-
rüber er nachgedacht hatte, weil es seltsam gewesen war,
nicht wichtig, aber seltsam.
Er blätterte und blätterte und fand die gottverdammte
Seite nicht. Er setzte sich und zwang sich, einen Ordner
nach dem anderen in aller Ruhe durchzusehen. Nur die
Ruhe.
Locker bleiben, Kimmo, hatte Sanna gerne gesagt,
obwohl sie selbst zu wesentlich beängstigenderen Wut-
anfällen fähig gewesen war als er.
Da
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