Das schweigende Kind
redeten nicht, sprachen auch später nie mehr über diesen Vorfall; wir kochten zusammen, als wäre nichts geschehen; sie brachte dich ins Bett.
Erst jetzt habe ich verstanden, dass ihr Tod und der meine ein und dasselbe sind. Ich habe seit langem keinen Pinsel mehr in die Hand genommen, nichts mehr gezeichnet, auch keine Sternbilder. Mag sein, dass die Medikationen schuld daran sind; nachdem das Anafranyl keine Resultate gezeitigt hat, ist man auf Niamid übergegangen. Die immer höheren Dosierungen bewirken jedoch das Gegenteil: Tagträumen und einem suizidären Verfolgungswahn verfallen, verliere ich selbst den Gleichgewichtssinn, dass mir alles vor Augen verschwimmt. Ich bin mehrmals schwer gestürzt, kann kaum noch essen oder trinken, ohne mich sogleich übergeben zu müssen, und uriniere fast unkontrolliert. Einmal erwacht, komme ich von dem Alb nicht los, der mir auf der Brust sitzt, und warte begierig auf die Visite des Arztes.
In dessen Anwesenheit finde ich wieder zu einer gewissen Geistesgegenwart zurück, doch diese Wachheit reicht inzwischen nicht mehr bis zur Mittagsruhe. Allein den einmal angefangenen Absatz beenden zu wollen hält mich am Tisch, an dem ich den Nachmittag über wie apathisch sitze, einen Bildband der Kunstgeschichte aufgeschlagen vor mir, den Bleistift dazu benützend, mit dem Lineal die Farbdrucke zu rastern und ihre verborgene Geometrie herauszuarbeiten.
Jede Maria mit ihrem Kind ist zumeist von einem Kreis umrahmt, dem sich all die anderen Formen eingeschrieben finden, Seurats Modelle ein Gitterwerk gleichschenkliger Dreiecke, Ingres’ Odaliske konzentrischen Halbkreisen entlang drapiert, Tintorettos und Giorgiones Venus sich entlang ihrer Diagonalen rekelnd, Botticellis Venus von den Winden in einen Goldenen Schnitt gedrängt, um sich mit dem nächsten Schritt über die Wasser jedoch wieder in die Mitte zu rücken: gleichgültig, ob die Figuren die darunter liegende Symmetrie überdecken oder herausstreichen – sie richten sich an Brenn- und Fluchtpunkten aus und ordnen sich ihnen unter, als wären sie die Schwer- und Fliehkräfte unseres Lebens.
Sogar die Vorstellung, die ich von dir habe, wird noch von solch unerbittlichen Falllinien definiert, die ich lieber verwischen, unkenntlich machen möchte. Wenn ich sie dennoch ziehe, dann damit du sie irgendwann überwinden, dich davon abheben kannst, frei werden, wie ich es versuche im Gespräch mit meinem Arzt: etwas in mir zu entdecken, das nicht von den Trajektorien der Gewalt durchbohrt wurde, dem Walten von Kräften, denen wir ausgeliefert sind.
Das letzte Foto von dir habe ich gemacht, als du schon fast vier Jahre alt warst. Du schläfst, deine Brauen seltsam angehoben, in einem Traum gefangen, als fragtest du nach deiner Mutter. Deine zu großen Ohren stehen ab unter den Locken, du hast nur ein rotes Höschen an, und man sieht, wie heiß dir ist; ich kann deine warme Haut an der Wange, im Arm spüren, den süßen Schweiß schmecken an dir, wenn ich nur auf dein Gesicht blicke und mich an die Stunden mit dir erinnere. Doch knapp über dem zurückgestrampelten Laken hast du deine Fingerchen ineinandergefaltet, als würdest du beten, nein, schrecklicher: als lägest du aufgebahrt, dein Staunen nun in starre Ungläubigkeit verwandelt.
DREIUNDZWANZIG
In der Traumarbeit der Sprache aber wird wieder denkbar, was vor dem Anfang und nach dem Ende war, kann ich den Namen deiner Mutter wieder in den Mund nehmen.
Nackt mitten im Januar, reglos auf einer Holzkiste, den Oberkörper verdreht, die Beine leicht gespreizt, Arme abgewinkelt und mit geneigtem Kopf blicklos auf etwas starrend, sagte deine Mutter, verwandle ich mich in eine Statue, Lots Frau, die Verkörperung einer Jahreszeit, einen Engel am Grab… Die am längsten durchgestandene Pose währte über Monate verteilt 111 Stunden, sagte deine Mutter, ohne dass ich die Minuten gezählt hätte, weil ich über diese quälende Anspannung jedesmal in Trance gerate. Es ist die an jeder Muskelfaser zerrende Lähmung, die mich innerlich aufrechthält; ich lehne mich daran, es stützt mich: dieser Schmerz ist der geringste Preis, um zu einer Figur werden zu können, die mir ähnelt, ohne ich zu sein. Wenn ich denn einen Wunsch hätte, sagte deine Mutter unverstellt zu mir gewandt, dann den, alle Bilder, für die ich Modell saß, einmal in einer Ausstellung versammelt zu sehen, um ungehindert und mit aller Zeit der Welt zwischen ihnen herumzugehen und den Entwürfen, Skizzen und
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