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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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Abdrücken meiner selbst gegenüberzustehen und diese Wandlungen alle zu überblicken. Jedes Bild stellt eine Pause meiner selbst dar, in der ich für eine Weile zur Ruhe kam; doch je mehr Kopien entstehen, desto weniger greifbar scheine ich mir. Sodass ich, hatte deine Mutter an diesem Morgen in einem Moment völliger Ruhe gesagt, halb im Kissen vergraben, ihr Haar flammend rot leuchtend, der Frage nicht mehr länger ausweichen kann: wer bin ich eigentlich?
    Es war einer der wenigen geglückten Augenblicke, wo wir satt und verschwitzt auf der Matratze lagen, die Decke zu Boden gerutscht, meine Wange auf ihrer Hand, uns ein- und ausatmend, jede Verhärtung gewichen. Alles hatte wie sonst auch mit ausgestelltem Missfallen begonnen, das durch sanfte Annäherungen überwunden werden wollte, Gesten der Verführung meinerseits, in die sie sich schließlich zu schicken vorgab, als überließe sie sich bloß meiner Befriedigung, ohne selbst befriedigt zu werden. Noch in diesem Zwang begriffen, hatte sie sich wie immer auf den Bauch gekehrt, die Schenkel aneinandergepresst, sich bei jeder Berührung versteifend und unwillkürlich verkrampfend, der Körper blass, beinah kalt, dass meine Finger kaum eine weiche Stelle fanden: erst bohrendes Kneifen, Schläge mit der flachen Hand, der langsam ansteigende Schmerz ließ Widerspenstigkeit in Lust übergehen. Für ein Mal aber kamen wir plötzlich, in völliger Selbstvergessenheit, Hand in Hand zu liegen. Sie drehte sich um, offen, schmiegsam und warm, eine Zunge von Licht über ihre schmalen Brüsten leckend, und ließ Liebe zu: wir waren selbstlos und eins.
    Unverwandt blickten wir uns an, und ich dachte, wie schön, wenn es immer so bliebe, wenn diese Erlösung möglich wäre. Ich hatte die Liebe so nicht gekannt, nein: nie solche Liebe gekannt. Und da deine Mutter mich nun unabsichtlich hatte sehen lassen, was ich nicht hätte sehen sollen, erzählte sie aus derselben Stille heraus, in der wir miteinander geschlafen hatten, von ihrem Vater.
    Keine zwölf war sie gewesen, die Nachbarn sonntags zu Besuch auf der Terrasse, einer dieser nie vergehenden Sonntagnachmittage, Gespräche über einen Totogewinn, den geplanten Campingurlaub, die Angst um den Arbeitsplatz, während deine Mutter, weit entfernt von allem, im Gras spielte und sich ›beschmutzte‹. Peinlich berührt von dem sich dunkel auf deinem Sonntagskleidchen ausbreitenden Fleck, geriet ihr Vater in eine absonderliche Rage, seine Frau wie immer in stummem Gehorsam daneben; er riss sie an sich und trug sie in ihr Zimmer, um sie ob ihres fehlenden Sinns für ›Sauberkeit‹ zu bestrafen. Deine Mutter presste sich mit dem Bauch ans Laken, um ihn vor den Schlägen zu schützen, voll verkrampfter Anspannung und zugleich doch neugierig erregt. Er griff nach einem Gürtel; als er an ihrer Nacktheit, dem dünnen Flaum zwischen den Beinen dann aber die Frau sah, die deine Mutter dabei war zu werden, darüber ebenso erschrocken wie über sich selbst, drückte er sie nieder: und sie hinwieder empfand die Schläge nun als Erleichterung, harmlos im Vergleich zum Unheil, das sie sich ausgemalt hatte. Da überkam ihn Scham; er nahm den blauen Schal vom Stuhl und bedeckte sie damit. Und als erkläre sich alles aus der verletzlichen Blöße, mit der sich deine Mutter an diesem Nachmittag offenbarte, flüsterte sie: Ich möchte ein Kind von dir.
    Ohne zu wissen, wer wir waren, glaubten wir so, einander schon erkannt zu haben. Ich erzählte ihr von meiner Familie, um mich nun auch offen zu zeigen, ebenfalls zur Schau zu stellen, was mich bedrängte. Das war das Glück dieses Augenblicks: dass wir für ein Mal erkannten, wie ähnlich wir einander in unserer Ohnmacht und Bedürftigkeit waren, in unserem Trotz und der Sehnsucht, die bloß ein übersteigerter Anspruch auf Liebe waren, der Versuch, sie zu erzwingen. Elend waren wir, ohne es uns einzugestehen, und ohne dem Gefühl zu entkommen, irgendwie unecht zu sein, unfertig. Ein Kind jedoch, ein Kind von uns beiden – allein der Gedanke daran versprach die Möglichkeit der Vollendung, und sei es nur, um so mit unseren Eltern die Rollen tauschen und unsere Kindheiten wiederholen zu können. Wir schienen zwei Hälften, die einander vervollständigten, um in einem Kind zusammenzuwachsen.
    Doch darin lag der Trugschluss. Wir vervollständigten uns, weil wir gegensätzlich waren; was uns fehlte, machte uns aber nicht gleich. Ich war es, der ihr Schmerz zuzufügen hatte, um sie aus ihrer

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