Das Schwein sieht Gespenster: Roman (German Edition)
das lebende Schwein friedlich in seinem Verschlag schlief. Declan, den Arm voller Zeitschriften, blieb stehen, nahm die Geistererscheinung und deren sichtliches Interesse wahr und warf das zerfledderte Papierbündel auf den immer größer werdenden Berg. Dann kehrte er in den Schuppen zurück, um mehr von dem Gerümpel zu holen.
Das Schwein war inzwischen auf den Abfallhaufen geklettert und wühlte in dem Durcheinander herum, als verfügte es noch immer über die Gabe, Nützliches ans Tageslicht zu befördern oder auch Dinge, die den Menschen nichts mehr bedeuteten. Declan brachte eine Matratze angeschleppt, darauf bedacht, sie möglichst weit von sich zu halten. Er stampfte mit dem Fuß auf, ein sinnloser Versuch, das Schwein zu verscheuchen. Unbeeindruckt schnüffelte es weiter in dem Abfall herum. Zu seinem Leidwesen vermochte es nichts von dem Unrat in die Gegend zu schleudern. Declan ließ es noch kurz gewähren und warf dann die Matratze hoch oben auf den Haufen. Wäre es ein Schwein von Fleisch und Blut gewesen, hätte es beträchtlichen Schaden genommen. So aber tauchte es einfach am Fuß des Abfallberges wieder auf und nahm erneut seinen Beobachtungsposten ein.
Gleichermaßen bestürzt und entrüstet hatte Kitty derweil immer wieder die Scherbe betrachten müssen und konnte sich nicht erklären, weshalb Declan – Declan Tovey – sich so und nicht anders verhalten hatte. Sie näherte sich ihm und blieb vor ihm stehen, sah ihn aber nicht an, mehr an ihm vorbei, als nähme sie gar nichts wahr.
Declan unterbrach sein emsiges Tun. »Was ist?«
Kitty blickte wieder auf die Scherbe in ihrer Hand. Langsam begann sie die Hand zu schließen, hielt inne und öffnete sie wieder. Sie versuchte es ein zweites Mal, und wieder kam sie nur bis zur Hälfte, als sträubte sich die Hand. Kitty ließ es geschehen und streckte die Finger. Ein leichtes Zucken ging durch die Hand, dann verharrte sie in der geöffneten Haltung. Kitty starrte auf die Scherbe, die auf der Handfläche ruhte, und murmelte kaum hörbar: »In dem Grab wurde ein Knabe gefunden, ausgebuddelt vom Schwein. Vielleicht war es auch ein junger Mann. Ein Lehrling war er jedenfalls, lernte das Handwerk eines Dachdeckers. Er stürzte herunter. Der Kopf. Schädelfraktur. Er starb. Wurde im Garten begraben. Eine Kappe, zum Bedecken der Wunde. Ein Klopfbrett im Beutel neben ihm, ein Gedenken an sein Hoffen und Sehnen, es zum Dachdeckermeister zu bringen. Sollte nicht für ewig da liegen. Du flohst in den Norden, um die Familie zu finden, zu der er gehörte. Und wir fanden das Skelett und wuschen es und kleideten es an, veranstalteten eine Totenwache, wie es sich gehört, und gruben ein tieferes Grab.
Dann aber wurde das Meer seiner gewahr, stellte fest, dass er der Erde zurückgegeben werden wollte. Wütend bäumte es sich auf. Zu schön war der Bursche, liebenswert und gut. Das Meer wollte ihn für sich. Es rief die Winde herbei. Mit voller Wucht donnerten die Wogen gegen die Steilküste. Die Winde fielen in das Getöse ein. Und es geschah. Wenn das Haus mit untergehen musste, dann war es eben so. Das Meer wollte den jungen Mann haben. Es konnte nicht anders. Er war so liebenswert und schön. Und nun ist er dort. Und wir sind hier. Und wir warten, und wir suchen, doch er wird nie kommen, nicht ans Ufer. Niemals.«
Sie nahm die Scherbe, drehte sie zwischen Daumen und Zeigefinger, schloss dann die Hand zur Faust, die Scherbe fest darin.
Ganz ruhig fragte Declan: »Woher weißt du das alles, wenn es dir doch keiner hat erzählen können, außer einem, der aber nie ein Wort darüber verlauten lassen würde?«
Kitty blickte in seine Richtung, presste beide Hände zusammen, die Scherbe zwischen den Handflächen. Dann nahm sie sie wieder in die rechte Hand, drückte sie ins Fleisch, dass es schmerzte, und sagte: »Weiß ich was?«
»Das, was du eben gesagt hast.«
»Ich gesagt? Ich und was gesagt? Was denn? Nichts habe ich gesagt.«
»Du hast es erzählt, es hätte nie erzählt werden dürfen.«
»Erzählt? Was?«
»Er hieß Michael – und wird immer so heißen. Den Rest weißt du.«
»Ich … ich weiß nichts. Wovon redest du?«
»Eben erst. Du hast in deine Hand gestarrt. Auf die Scherbe von der Schüssel. Und darin hast du alles gesehen, was geschehen ist. Ganz genau, wie es war.«
»Ich … ich …« Kitty blickte auf ihre Faust und öffnete sie. Da lag die Scherbe. Sie schloss die Faust, ganz fest, so dass die Ränder in die Handfläche schnitten.
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