Das Schwein sieht Gespenster: Roman (German Edition)
das Steine durchdringen konnte und erst recht natürlich ihr empfindsames Herz. Zu der etwas übergroßen Nase, die eine leichte Neigung nach links hatte, passte der volle Mund, den weniger begnadete Geschöpfe in solcher Breite nicht benötigten. Das Kinn unter dem sorgsam gestutzten Bart sprang auffallend vor, hatte aber nichts von der Arroganz, die das leicht vermuten ließ. Und was seinen Körper betraf, der war nach einem Ebenbild von Göttern gestaltet, die kerniger waren und nicht so gekünstelt wie ihre verweichlichten Nachfolger. Sein Rückgrat wölbte sich etwas nach innen und betonte die felsenfesten Gesäßbacken; ein Anblick, dem sie auf immer und ewig verfallen war. Sie musste sich zwingen, ihren Blick zu den Füßen gleiten zu lassen, die Gott sei Dank nichts besonders Auffälliges boten, abgesehen davon, dass sie zu den größten im ganzen Land gehörten.
Kitty, die ebenso nackt war wie er, ließ die Beine über die Bettkante gleiten, stand auf und stellte sich neben ihn. Auch sie sagte nichts, schaute nur angespannt nach draußen. Als er keinerlei Anstalten machte, auf ihre unmittelbare Gegenwart zu reagieren, streckte sie die Hand aus und ließ sie auf seiner Schulter ruhen. Wartete, wollte schweigen, ewig warten, sollte es nicht anders gehen.
Nach einer Weile fragte Kieran leise, ohne sich im mindesten zu bewegen: »Wird unser Kind in der Wiege unter dem versonnenen Blick von Geistern schlafen können?«
Ein solcher Gedanke war Kitty noch nicht in den Sinn gekommen. Bei weniger wichtigem Anlass hätte sie vermutlich gleich geantwortet: »Wir springen von der Brücke, wenn es soweit ist.« Aber hier handelte es sich um etwas, das viel zu ernst war, um mit einer sarkastischen oder albernen Bemerkung abgetan zu werden. Sie war unfähig, darauf etwas zu erwidern, und sagte gar nichts, was ihrem Naturell widersprach.
Nach einer bedachtsam gewählten Pause fing Kieran erneutan: »Sie … oder er … unser liebes, liebes Kind,
unser
Kind … und, weil es eben unser Kind ist, … wird sie sehen. Brid. Taddy.« Er machte eine Pause und fügte hinzu: »Vielleicht sogar das Schwein. Wollen wir das wirklich?«
Wieder hatte Kitty nichts zu bieten als Stillschweigen.
Nach einer Pause, die diesmal kürzer ausfiel, redete Kieran weiter. »Wie wird es einem Kleinkind ergehen, wenn es entdeckt, dass die Welt mitunter Grenzen überschreitet, dass Wände, die in der Wirklichkeit vorhanden sind, sich erweitern? Geheimnisse werden sich ihm auftun, die unser Kind anders werden lassen als seine Altersgenossen. Dadurch wird ein verwirrtes Mädchen oder ein durcheinandergebrachter Junge in eine Einsamkeit gedrängt werden, über der ein Schatten liegt, Tag und Nacht. Und wir werden erzählen müssen, wo das alles angefangen hat und wie und warum. Hineingeboren wird es in eine Schande, die nie getilgt werden kann. Soll ein
Kind
schon damit belastet werden? Wann sollen wir ihm die Geschichte erzählen? Wann soll ihm das alles erklärt werden? Wie können wir es trösten und beruhigen, wenn wir doch selber, ebenso wie unser Baby, von Vorfahren abstammen, die mitschuldig waren, dass Brid gehängt wurde, dass Taddy gehängt wurde? Sie sind Geister, doch wenn sie erscheinen, erinnern sie ewig an ein uraltes Unrecht. Und unsere Kinder werden diese unselige Erinnerung erben, und ihre Kinder nach ihnen. Wie sollen wir ihnen sagen ›Lebt damit, wenn ihr könnt‹ – ›Lebt damit, weil ihr müsst‹, wie, Kitty, wie?«
Kitty setzte sich auf die Bettkante. Ohne den Kopf zu heben und zu ihrem Mann zu sehen, sagte sie: »Wir ziehen doch bald zu deinem Bruder, weil sich das mit meinem Kurs in Cork besser macht. Danach wollte ich auf die Burg zurückkehren, damit das Kind dort geboren wird, wo es einmal der Erbe sein wird, wenn Gott uns abberuft. Etwas anderes habe ich mir bisher nicht vorstellen können.«
Sie wartete, dass Kieran etwas sagte, doch auch er ließ den Kopf hängen, wollte nicht länger in die Ferne schauen. Kitty atmetelangsam ein und aus. Sie hatte eine Lösung gefunden, hatte einen Entschluss gefasst. »Wir ziehen zu deinem Bruder. Wir kehren nie hierher zurück – jedenfalls nicht auf die Burg.« Kieran schwieg. »Die Burg wird in andere Hände übergehen. An Leute, die Brid und Taddy nicht sehen können. An jemand, der von dem Fluch frei ist, der uns auferlegt ist.«
»Dem Fluch? Oder der Ehre?«
»Beides.«
Ohne ihr viel Zeit zu lassen, sagte Kieran: »An jemand wie Lord Shaftoe? Und Brid und Taddy
Weitere Kostenlose Bücher