Das Schwein sieht Gespenster: Roman (German Edition)
Luft holen kann, werde ich wieder und wieder von dem reden, was ich dir eben gesagt habe.«
Unbeweglich betrachtete Kitty die Wand. Sie ließ ihren Atem kommen und gehen, weder flach noch tief. Ganz gewöhnliche Atemzüge wie im gewöhnlichen Leben. Sie stand auf und ging zu ihrer Seite des Betts hinüber. Sie schlug das Laken und die Decke zurück und schüttelte erst Kierans Kissen auf, dann ihres. Siestreckte die Hand aus und lächelte ein wenig befangen. »Ist das nicht unsere Morgenstunde? Oder weißt du’s etwa nicht mehr?«
Aus einem anderen Grund als man gemeinhin annehmen konnte, war Kitty zu dem alten Familiengrundbesitz gegangen, nicht um sich im sentimentalen Einssein mit ihren Vorfahren zu ergehen, da sie nun einen Beitrag leisten würde, die Familienlinie in die Zukunft zu verlängern. Auch war sie nicht hergekommen, um Declan zu treffen, der, wie man wusste, öfter die Klippen aufsuchte, wo er, wie Kitty inzwischen erfahren hatte, sich entweder seinem Kummer hingab oder ihn besänftigte. Sollte sie ihm begegnen, würde sie, falls überhaupt, ein paar Worte an ihn richten, ihn seinem Bedürfnis nach Einsamkeit überlassen, selbst aber tun, weswegen sie gekommen war.
Es hatte sie an die Abbruchkante der Klippen gezogen mit einem Exemplar von Mrs Whartons Roman
The House of Mirth
in der Hand. Declan hatte ihr das Buch gebracht. Es war ein Überbleibsel ihres in den Fluten versunkenen Hauses, das die Wogen an den Strand gespült hatten. Sie nahm es als ein Omen, dass dieses Werk ihrer Verbesserungen bedurfte. Sie hatte das Vorhaben seinerzeit schon einmal aufgegeben, die sonderbare Art jedoch, auf die ihr das Buch dann zugespielt worden war, hätte vermuten lassen können, dass sie sich nun der Aufgabe stellte. Sie war aber zu der Überzeugung gelangt, dass ein Zufall mitunter nichts weiter als ein Zufall ist, und hatte sich damit das Eingeständnis erspart, der Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Sobald die Flut am Fuß der Klippe aufschäumte, wollte sie das Buch in die tosenden Wasser schleudern, aus denen es aufgetaucht war.
Natürlich könnte sie es auch behalten, schließlich war es ein Teil ihrer verlorengegangenen Bibliothek. Doch sie fürchtete, sie würde es als Vorwurf empfinden, wenn es da in dem großen Zwischengeschoss im Turm lag, wo sie ihre Wunderwerke schuf, als Mahnung, dass Lily Bart, die unselige Heldin des Romans, sich ihren Bemühungen widersetzt hatte, sie aus den Fängen desSchicksals zu erretten. Dabei hatte Kitty ihren Namen bereits in Fenimore Blythe und den Titel des Buchs in
The House of Fenimore Blythe
verwandelt.
Die Schwierigkeit ergab sich daraus, dass Lily/Fenimore sich nicht so kooperativ verhielt, wie es Kitty erwartet hatte. Wenn man von den Zufällen absah, die das Bestreben der Frau vereitelten, sich einen Mann zu angeln, der ein bedeutendes Vermögen und einen guten Ruf besaß und ihr somit lebenslanges Glück verhieß, so blieb sie in Mrs Whartons Version doch reichlich unentschieden, wen sie sich als Gatten erwählen sollte.
Auch hatte Kitty eingesehen, dass die Zufälle, die Madam Wharton alias Pussy Jones ersonnen hatte, zwar völlig unwahrscheinlich, aber doch vorstellbar waren. Von der Anschuldigung, dass es Mrs Wharton einfach ins Konzept gepasst hatte, Lily zu vernichten, konnte Kitty jedoch nicht ablassen. Freilich musste man Mrs Wharton zugestehen, dass der Geist der Zeit, in der Lily/Fenimore gelebt hatte, mindestens ebenso an ihrem Schicksal schuld war.
Kitty hatte versucht, aus ihr einen Wall Street Insider zu machen, eine Frau, die es verstand, ihr an Wert verlierendes Aktienpaket so einzusetzen, dass sich Reichtümer anhäuften, die nicht nur die Männer ihrer Bekanntschaft beschämten, sondern sie sogar veranlassten, sich vor ihrer Tür zu drängen, da sie nun ihren Charme entdeckt hatten. Wer aber außer einem Amerikaner oder einem Franzosen wollte schon einen Roman über eine Börsenmaklerin schreiben? Kitty McCloud jedenfalls nicht.
Unsere Autorin stattete Lily/Fenimore dann mit dem Vorzug aus, den sie selbst und Mrs Wharton besaßen: Sie sollte künstlerisch begabt sein. Nicht als Schriftstellerin, sondern wie die ursprüngliche Autorin es als möglichen Beruf ihrer Heldin im Original vorgesehen hatte, als Putzmacherin – freilich mit dem Unterschied, dass Lily/Fenimore nunmehr eine fast magische Begabung besaß, Hutkreationen zu schaffen, die auf die Frauen ihrer Umgebung so sensationell wirkten, dass sie ihr fast die Tür einrannten
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