Das Schwein unter den Fischen
Leben des jungen Heinrich erzählen?«
Lilli seufzt und fängt an, den Tisch abzuräumen. Ich stehe auf, um ihr zu helfen, sie drückt mich an den Schultern wieder auf meinen Stuhl:
»Hör gut zu, was Heinrich zu berichten hat, sonst erzählt er das nachher wieder mir oder den Passanten auf der Straße. Und er merkt, ob du zuhörst, selbst wenn er vollkommen weggetreten scheint.«
Er starrt eine Weile vor sich hin, als hätte er sein Vorhaben bereits vergessen, doch dann hebt er den Zeigefinger, sieht mich an, öffnet den Mund, schließt ihn wieder und beginnt:
»Nachdem ich ein berühmter Dirigent geworden war, ging ich nach Amerika. Ich dirigierte das größte Orchester New Yorks, und nachts spielte ich Jazz in einer Bar. Ich hatte viele Frauen jeden Alters und jeder Nationalität. Doch dann verliebte ich mich in die talentierteste Geigerin des Orchesters. Sie wurde schon bald Solistin – auch in meinem Leben! Ich wollte keine anderen Frauen mehr. Diese Liebe machte aus mir einen treuen, einen loyalen Menschen. Sie machte mich erwachsen, denn ich wurde mir darüber bewusst, dass es etwas zu verlieren gab. In ihr glaubte ich das perfekte Glück gefunden zu haben.
An unserem Geburtstag – wir hatten zufällig am gleichen Tag das Licht der Welt erblickt –, gaben wir ein großes Fest. Eigentlich trank sie nicht, aber wir hatten beide tolle Verträge unterschrieben und wussten, wir würden bald das große Geld machen. Zum ersten Mal trank sie mehr, als sie vertrug. Und zum ersten Mal gab sie sich im Bett hin, wie sonst nur beim Geigespielen. Sie brach sich dabei einen wichtigen Handknochen, das Gelenk war hin. Für immer!«
Heinrich steht auf, wirbelt wie ein Dirigent mit den Armen durch die Luft, schleudert den imaginierten Taktstock auf den Boden, setzt sich wieder, spielt kurz und schnell auf einer unsichtbaren Geige, legt sich die Hand auf die Brust und seufzt:
»Ja, was soll ich sagen – ein knappes Jahr später brachte sie sich um. Sie hatte mich nicht vorgewarnt, sie tat, als ginge es ihr gut. Sie schien glücklich zu sein. Ich wollte glauben, sie wäre die stärkste Frau der Welt. Sie wollte Kinder bekommen und zu Hause bleiben. Sie behauptete, dass das für sie genauso schön sein könne wie das Geigespielen. Aber sie schlief nicht mehr mit mir. Ich verdiente genug für uns beide und drängte auf eine Familie. Sie entschied stumm, wofür es sich noch zu leben lohnte – und starb!«
»Puh«, sage ich, räuspere mich ausgiebig und wühle in meiner Tasche nach Zigaretten. Heinrich holt aus einer Schublade unter dem Tisch ein Päckchen heraus, reicht mir einen Zigarillo, der nach Nelken duftet, und steckt sich auch einen an. Ich inhaliere und huste, er scheint es gar nicht zu bemerken und fährt fort:
»Oh, na ja, also, ich lernte ein, zwei schmerzerfüllte Wochen später, auch in New York, diese wunderschöne, sehr junge Primaballerina kennen. Sie tanzte schon mit zwanzig nur Solos, was soll ich sagen, sie war ein Star! Sie war eine Sensation, Amerikanerin. Die meisten ihrer Klasse kamen aus Russland. Ich wartete am Bühnenausgang, um sie zu fragen, ob sie mit mir ausgehen wolle. Und ob sie wollte. Wir waren sofort verliebt. Wir gingen in das beste Restaurant der Stadt, es war magisch. Aber dann verschmähte sie das Dessert.«
Er schaut mich mit großen Augen an und nickt mehrmals.
»Was passierte dann?«
»Nun, wir hatten ein wunderbares, lasziv inniges Jahr zusammen, aber ich habe sie nie viel und niemals das Dessert essen sehen. Das Hungern machte sie immer schwächer und fahriger, darunter litt ihre Konzentration. Deshalb brach sie sich nach einem Sprung den Fuß, und ihre Bänder rissen. Die große Karriere war vorbei. Und als sie nicht mehr tanzte, war sie plötzlich nur noch eine ganz gewöhnliche hübsche Frau. Sie hatte keine anderen Interessen, konnte mit Kunst nichts anfangen, machte im Kino bloß Dehnübungen, las nie, nicht mal eine Zeitschrift, wollte keine Musik mehr hören, da es sie an das Tanzen erinnerte. Bühnen deprimierten sie nun grundsätzlich, aber zu Hause war sie auch nicht glücklich. Ich begann, sie zu verachten und ertappte mich dabei, mir zu wünschen, sie täte es ihrer Vorgängerin gleich. Also machte ich Schluss.«
»Und dann hat sie sich umgebracht?«
»Nein, sie begann zu essen, eine Unmenge von Nachtisch, fing an zu trinken, Drogen zu nehmen und heiratete einen Großkriminellen, der viele Restaurants in New York besaß. Ich verließ Amerika und dachte, ich
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